Entscheidungsstichwort (Thema)

Erteilung eines Erbscheins. Auslegung

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Auslegung einer letztwilligen Verfügung ist auch in den seltenen Fällen eines klaren und eindeutigen Wortlauts nicht durch diesen Wortlaut beschränkt.

Die Formulierung „zugleich versterben” oder inhaltsgleiche Wendungen „gleichzeitiger Tod”, „gleichzeitiges Versterben”) können in einem gemeinschaftlichen Testament von den Eheleuten nach ihrem Willen auch für den Fall des Nacheinanderversterbens gebraucht worden sein.

 

Normenkette

BGB §§ 133, 157

 

Verfahrensgang

LG Kassel (Beschluss vom 14.03.1995; Aktenzeichen 3 T 147/95)

AG Wolfhagen (Beschluss vom 23.02.1995; Aktenzeichen 6 VI W 3/95)

 

Tenor

Der angefochtene Beschluß und der Beschluß des Amtsgerichts Wolfhagen vom 23. Februar 1995 werden aufgehoben.

Das Amtsgericht Wolfhagen wird angewiesen, dem Erbscheinsantrag der Beteiligten zu 1) vom 16. Februar 1995 zu entsprechen.

Der Geschäftswert des Verfahrens der weiteren Beschwerde beträgt 200.000,– DM.

 

Gründe

Am … verstarb in Kassel im Alter von … Jahren der ehemalige … (Erblasser). Seine Ehefrau … mit der er am … die Ehe geschlossen hatte, ist am … Alter von … Jahren vorverstorben. Beide Eheleute waren kinderlos. Der Erblasser hatte zwei Brüder und eine Schwester, die sämtlich vorverstorben sind. Die Beteiligte zu 2) ist eine Tochter seiner Schwester. Die Beteiligte zu 1), die am … geborene Witwe … ist eine Schwester seiner vorverstorbenen Ehefrau. Der Erblasser und seine Ehefrau waren Eigentümer eines Wohnhauses zu je 1/2 Idealanteil.

Zur Sicherung und Verwaltung des Nachlasses sowie zur Ermittlung der Erben ist am 23.2.1995 Nachlaßpflegschaft angeordnet und Frau … in … zur Nachlaßpflegerin bestellt worden.

Der Erblasser und seine Ehefrau hatten am 11.12.1986 ein vom Erblasser eigenhändig geschriebenes und von beiden Ehegatten unterzeichnetes gemeinschaftliches Testament errichtet, das folgenden Wortlaut hat:

„Wir setzen uns hiermit gegenseitig zu Alleinerben ein.

Der Überlebende von uns kann über das Ererbte und sein eigenes Vermögen frei verfügen.

Sollten wir zugleich versterben, so soll die Ww. … wohnhaft in … … seren gemeinschaftlichen Nachlaß allein erben,”

Die Beteiligte zu 1) hat mit der Behauptung, ihre Erbeinsetzung in dem gemeinschaftlichen Testament vom 11.12.1986 stelle eine Schlußerbeneinsetzung für den Todesfall des Längerlebenden der Testatoren dar, in notarieller Urkunde einen Erbschein als Alleinerbin beantragt. Sie hat dazu eine notariell beurkundete eidesstattliche Versicherung der Frau … vom 16.2.1995 vorgelegt, in der es heißt, der Erblasser habe … im Sommer 1994 verschiedene Male bestätigt, daß die Beteiligte zu 1) letztendlich seine und somit auch Schlußerbin der Eheleute … werden solle.

Das Amtsgericht hat den Erbscheinsantrag durch Beschluß vom 23.2.1995 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach allgemeinem Sprachgebrauch könne die Formulierung „Sollten wir zugleich versterben” nur dahin verstanden werden, daß damit ein Versterben beider kurz nacheinander gemeint gewesen sei. Ein etwaiger gegenteiliger Wille der Testatoren sei in dem Testament vom 11.2.1986 nicht zum Ausdruck gekommen.

Die Beteiligte zu 1) hat gegen den amtsgerichtlichen Beschluß Beschwerde eingelegt. Sie hat zu deren Begründung vorgetragen, die Eheleute … (seien im Ausdruck nicht sehr gewandt gewesen. Die Ehefrau des Erblassers habe ein Feinkostgeschäft betrieben. In diesem Geschäft habe sie – die Beteiligte zu 1) – von 1938 bis 1950 unentgeltlich ausgeholfen. Sie habe während der fast zehn Jahre dauernden Krankheit ihre Schwester – die Ehefrau des Erblassers – zuhause gepflegt. In der Endphase der Krankheit habe sie dies ununterbrochen etwa ein Jahr lang bis zum Tode der Schwester getan. Auch sonst habe eine enge Verbindung zwischen ihr und den Eheleuten … bestanden. Sie hätten sich häufig gegenseitig besucht. Am Tage der Beerdigung ihrer Schwester habe der Erblasser ihr das Original des Testaments vom 11.12.1986 mit den Worten übergeben: „… hier ist unser Vermächtnis. Heb es gut auf.”

Der Nachlaßrichter hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Das Landgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen. Es hat angenommen, die von den testierenden Eheleuten in dem Testament vom 11.12.1986 gebrauchte Formulierung „Sollten wir zugleich versterben” meine auch bei weiter Auslegung eindeutig nur die Fälle, daß die Ehegatten zeitgleich oder kurz nacheinander sterben. Diese Auslegung stehe in Einklang mit der in dem Testament getroffenen Bestimmung, daß der Längerlebende über den ihm zugefallenen Nachlaß frei verfügen können sollte. Die Freistellungsklausel sei mit der Einsetzung der Beteiligten zu 1) als Schlußerbin nach dem Letztversterbenden unvereinbar. Im übrigen ergebe sich aus dem gemeinschaftlichen Testament kein Anhaltspunkt für die Annahme, die Testatoren seien von der Vorstellung ausgegangen, daß die Beteiligte zu 1) als Schlußerbin des Letztversterbenden eingesetzt sein solle.

Gegen den landgerichtlichen Beschluß richtet sich die weit...

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