Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die Beschwerdeschrift nach § 172 GWB; konkludenter Beiladungsbeschluss, Geltendmachung der Unwirksamkeit nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB, Dringlichkeit im Sinne des § 3a EU Abs. 3 Nr. 4 VOB/A
Leitsatz (amtlich)
1. Die Beschwerde ist nur dann wegen eines Begründungsmangels unzulässig, wenn das Beschwerdegericht ihr nicht entnehmen kann, aus welchen Gründen tatsächlicher oder rechtlicher Art die angefochtene Entscheidung nach Auffassung des Beschwerdeführers falsch sein soll. Fehlende Beweisantritte führen daher nur insoweit zur Unzulässigkeit des Rechtsmittels, als ausschließlich die Nichtberücksichtigung von Beweismitteln gerügt, diese aber gleichwohl nicht hinreichend bezeichnet werden. Schlüssigkeit, hinreichenende Substantiierung, Vertretbarkeit oder rechtliche Haltbarkeit der Beschwerdebegründung werden hinsichtlich der formalen Mindestanforderungen nicht verlangt.
2. Der von der vollständig besetzten Vergabekammer zu treffende Beiladungsbeschluss kann in einer konkludenten Billigung der vom Vorsitzenden allein veranlassten Hinzuziehung als Beigeladenem in einem späteren Kammerbeschluss (hier: der Entscheidung über den Nachprüfungsantrag) liegen.
3. Bei Kündigung des Altaufrags und neuer Vergabe der noch nicht fertiggestellten oder nur mangelhaft erbrachten Leistungen ist für den nach § 106 GWB maßgeblichen Schwellenwert auf den gekündigten Altauftrag abzustellen.
4. Der Zugang zum Nachprüfungsverfahren kann nicht mit der Begründung verwehrt werden, das Angebot des Antragsstellers sei aus anderen als mit dem Nachprüfungsantrag zur Überprüfung gestellten Gründen auszuscheiden gewesen, weshalb dem Antragssteller wegen der von ihm behaupteten Rechtswidrigkeit kein Schaden erwachsen sei oder drohe (Anschluss an BGH, Beschluss vom 18. Mai 2004 - X ZB 7/04, "Mischkalkulationen", juris, Rn. 21 = BGHZ 159, 186). Die Frage, ob das Angebot aus irgendwelchen Gründen (zwingend) auszuschließen ist, ist daher eine Frage der Begründetheit, allerdings nur, sofern es für diese hierauf ankommt.
5. Die Berufung auf § 135 GWB kann jedenfalls dann nicht nach Treu und Glauben eingeschränkt werden, wenn das Vorgehen der Vergabestelle offensichtlich rechtswidrig war und die Grenze zur Willkür überschritten hat.
6. § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB setzt weder einen bereits entstandenen, noch einen drohenden Schaden voraus.
7. Eine äußerste Dringlichkeit im Sinne des § 3a EU Abs. 3 Nr. 4 VOB/A setzt voraus, dass der Beschaffungsbedarf bei Einhaltung auch der verkürzten Mindestfristen der § 10a, 10b und 10c EU VOB/A nicht gedeckt werden kann. Allein wirtschaftliche Interessen können die äußerste Dringlichkeit dabei nicht begründen.
8. Im Zuge der das Beschwerdeverfahren nach §§ 171 ff. GWB betreffenden Kostenzugrundeentscheidung bedarf es keiner Entscheidung über die Notwendigkeit der Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten.
Normenkette
GWB §§ 71, 106, 135 Abs. 1 Nr. 2, §§ 135, 160 Abs. 2 Nr. 2, §§ 162, 172 Abs. 2-3, § 175 Abs. 2; VgV § 14 Abs. 4 Nr. 3; VOB/A § 3a EU Abs. 3 Nr. 4
Verfahrensgang
Vergabekammer des Landes Hessen (Beschluss vom 02.12.2021; Aktenzeichen 69d - VK2 - 32/2021) |
Tenor
Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.
Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss der 2. Vergabekammer des Landes Hessen vom 2. Dezember 2021, 69d - VK2 - 32/2021, aufgehoben, soweit er nicht die Festsetzung der Gebührenhöhe betrifft.
Es wird festgestellt, dass der am 9. August 2021 in der hessischen Ausschreibungsdatenbank unter der Referenznummer HAD ... bekannt gemachte Vertrag zwischen dem Antragsgegner und der Beigeladenen vom 04.08.2021 von Anfang an unwirksam ist.
Der Antragsgegner wird im Falle des Fortbestehens der Beschaffungsabsicht verpflichtet, den Auftrag unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats im Wege eines Vergabeverfahrens nach Teil 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen auszuschreiben.
Der Antrag der Antragstellerin auf Akteneinsicht wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat die Kosten des Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung vor der Vergabekammer notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin zu tragen. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes durch die Antragstellerin war für das Verfahren vor der Vergabekammer notwendig.
Der Antragsgegner hat die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens sowie die zur zweckentsprechenden Erledigung der Angelegenheit im Beschwerdeverfahren notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu tragen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf bis zu 125.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I. Die Antragstellerin erhielt in einem vorangegangenen, hier nicht verfahrensgegenständlichen, Vergabeverfahren aus dem Jahr 2013 den Zuschlag für Aufzugsarbeiten für elf Aufzüge im neu zu errichtenden - bis heute nicht fertiggestellten - Gebäude ... (Bauteile ..., ..., ...) der Klinik1 in Stadt1. Zwei dieser Aufzüge wurden während der Bauarbeiten an dem Gebäude als Bauaufzü...