Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiederaufnahme des Verfahrens nach stattgebender Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

 

Normenkette

StPO §§ 368, 366, 359 Nr. 6, § 337

 

Verfahrensgang

LG Kassel (Entscheidung vom 10.03.2022)

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 04.12.2023; Aktenzeichen 2 BvR 1699/22)

 

Tenor

Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten der Verurteilten verworfen.

 

Gründe

I.

Der ehemalige Lebensgefährte der Beschwerdeführerin, A, wurde am … vom Landgericht Stadt1 wegen Mordes an B, dem damaligen Ehemann der Beschwerdeführerin, zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. In diesem Urteil ist u.a. festgestellt, dass die Tötung des Ehemannes der Beschwerdeführerin auf einem gemeinsamen Tatplan von A und der Beschwerdeführerin beruhte und erfolgte, um in dessen Geschäfte eintreten zu können und sich sein Vermögen zu sichern. Berichterstatter in diesem Verfahren war Richter am Landgericht C.

Die Beschwerdeführerin wurde mit Urteil des Landgerichts Stadt1 vom … wegen Mordes unter Einbeziehung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Stadt2 vom … zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe als Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. In dem der Verurteilung zugrundeliegenden Verfahren führte Richter am Landgericht C, der in dem Verfahren gegen A als Berichterstatter mitgewirkt hatte, den Vorsitz.

Die Beschwerdeführerin legte gegen ihre Verurteilung durch das Landgericht Stadt1 Revision ein und begründete diese u.a. mit der Befangenheitsrüge (§ 338 Nr. 3 StPO). Mit Urteil vom … verwarf der Bundesgerichtshof die Revision (Az.: …). Zur Rüge der Befangenheit führte der Bundesgerichtshof aus, dass die Mitwirkung eines Richters an Vorentscheidungen regelmäßig kein Ablehnungsgrund sei. Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters sei nicht gerechtfertigt, soweit er in einem früheren Strafverfahren mitgewirkt habe, in dem dieselben Vorgänge wie in dem jetzigen Verfahren eine Rolle spielten. Dies gelte auch dann, wenn die Mitwirkung die Verurteilung eines Mittäters wegen derselben Straftat betreffe. Eine andere Beurteilung sei nur bei Hinzutreten besonderer Umstände angezeigt. Solche könnten etwa vorliegen, wenn das frühere Urteil unnötige und sachlich unbegründete Werturteile über den jetzigen Angeklagten enthalte oder ein Richter sich in sonst unsachlicher Weise zum Nachteil des Angeklagten geäußert habe. Solche Äußerungen und Wertungen enthalte das Urteil vom … nicht.

Die am … durch die Beschwerdeführerin erhobene Verfassungsbeschwerde nahm das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom … nicht zur Entscheidung an (Az.: …).

Auf die Individualbeschwerde der Beschwerdeführerin (…) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Urteil vom … entschieden, dass durch die Mitwirkung des Richters am Landgericht C an dem gegen die Beschwerdeführerin geführten Strafverfahren Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt worden sei. Es gebe zwar keine Anzeichen dafür, dass Richter am Landgericht C in dem Verfahren gegen die Beschwerdeführerin mit persönlicher Voreingenommenheit vorgegangen wäre. Es sei von der persönlichen Unparteilichkeit des Richters auszugehen (subjektiver Ansatz). Unter Berücksichtigung der gesamten Umstände der Rechtssache habe die Beschwerdeführerin allerdings angesichts des Wortlauts in dem Urteil gegen A berechtigterweise die Befürchtung haben können, dass Richter am Landgericht C hinsichtlich ihrer Schuld eine vorgefasste Meinung gehabt habe. Die Zweifel der Beschwerdeführerin an der Unparteilichkeit des Landgerichts seien objektiv gerechtfertigt. Das Urteil gegen A enthalte eine ausführliche Würdigung der Rolle, die die Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit dem gewaltsamen Tod ihres Ehemannes gespielt habe, die über eine sachliche Darstellung der Umstände des Verbrechens hinausgehe. Es würden nicht nur die vorsätzliche Tötung ihres Ehemanns und die Art der Durchführung des gemeinsamen mit A geschmiedeten Plans im Detail beschrieben, sondern auch die niedrigen Beweggründe der Beschwerdeführerin für ihr Handeln, nämlich das Bestreben, sich in rücksichtloser Art und Weise das Vermögen von B zu sichern. Dadurch habe das Landgericht eine rechtliche Würdigung der Tat auch im Hinblick auf die Beschwerdeführerin vorgenommen, die über das hinausgehe, was notwendig gewesen sei, um die Tat von A rechtlich einzustufen, indem festgestellt wurde, dass nicht nur A, sondern auch die Beschwerdeführerin aus Habgier gehandelt habe und an dem Mord von B beteiligt und dessen gleichermaßen schuldig sei, obwohl A als Alleintäter angeklagt worden sei.

Mit Schriftsatz ihres Verteidigers vom 30. Juli 2021 hat die Beschwerdeführerin beantragt, die Wiederaufnahme des Verfahrens des Landgerichts Stadt1 wegen des Vorliegens eines Wiederaufnahmegrundes nach § 359 Nr. 6 StPO anzuordnen. Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom … seien die Voraussetzungen des § 359 Nr. 6 StPO erfüllt. Das Urteil habe festgestellt, dass eine Konventionsverletzung vorliege. Da somit ein Fall des § 338 Nr. 3 StP...

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