Entscheidungsstichwort (Thema)
Strafverfahren wegen illegalen Aufenthalts. Straffreiheit eines Ausländers bei bestehendem Duldungsanspruch. Erfordernis von Urteilsfeststellungen zum Rückführungsverfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Die Ausländerbehörde darf nicht entgegen den Grundsätzen des strafrechtlichen Schuldprinzips über eine mögliche Strafbarkeit des Ausländers wegen illegalen Aufenthalts im Bundesgebiet durch Untätigkeit entscheiden (Anschluss BVerfG, 6. März 2003, 2 BvR 397/02, NStZ 2003, 488).
2. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Ausländerbehörde von einer Strafhaft eines ausgewiesenen Ausländers Kenntnis erlangt.
3. Die Ausländerbehörde hat nach der Haftentlassung eines Ausländers, der nicht im Besitz eines Passes oder einer Aufenthaltserlaubnis ist, über seine Duldung zu entscheiden.
4. Eine Verurteilung nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG setzt nähere Ausführungen zu den Umständen des Rückführungsverfahrens in den Urteilsgründen voraus (Anschluss KG Berlin, 26. März 2012, (4) 1 Ss 393/11 (20/12), NStZ-RR 2012, 347).
Normenkette
AufenthG § 48 Abs. 2, § 60a Abs. 2, § 95 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 2014-03-24; AufenthV § 5 Abs. 2; AuslG § 92 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
AG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 28.01.2013; Aktenzeichen 932 Ds - 112 Js 3012/13 - 1038) |
Tenor
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Frankfurt am Main - Strafrichter - zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht Frankfurt am Main hat den Angeklagten wegen illegalen Aufenthalts in Tateinheit mit einem Aufenthalt ohne gültige Ausweispapiere zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 5 Euro verurteilt.
Gegen dieses Urteil richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte und zugleich mit der allgemeinen Sachrüge begründete Revision des Angeklagten. Sie führt zur Aufhebung des Urteils.
Zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten hat das Amtsgericht u.a. folgende Feststellungen getroffen:
"Der Angeklagte besuchte in Kasachstan die Hauptschule. Mit 17 Jahren kam er nach Deutschland. Er begann eine Lehre als Metallbauer, die er nicht abschloss. Der Angeklagte hat keine Eltern mehr. Bruder, Tante, Onkel und Cousinen leben in L1. Der Angeklagte ist seit 1969 drogenabhängig. Er konsumiert Heroin. 2002 befand er sich 10 Monate in Therapie zur Bekämpfung seiner Drogensucht. Die er regulär abschloss. Der Angeklagte wurde wieder rückfällig. Er begab sich daher 2008 zum Hof A, um eine weitere Therapie anzutreten. Er blieb jedoch nicht dort, da ihm die Regeln zu streng waren. Zuletzt kümmerte sich der Angeklagte 2008 um seinen Aufenthaltsstatus als Ausländer, wobei er damals Kontakt zur Ausländerbehörde hatte...
Der Angeklagte wurde zuletzt in anderer Sache am 12.11.2012 aus der JVA1 entlassen. Er besaß zu diesem Zeitpunkt 2.300,- €. Auch nahm er keine Drogen mehr."
Zur Sache hat das Amtsgericht folgende Feststellungen getroffen:
"Der Angeklagte ist Kasache. Als solcher benötigt er für den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis oder Duldung und einen gültigen nationalen Pass. Beides besitzt er nicht. Mit Verfügung der Ausländerbehörde der Stadt O1 vom 23.8.2007 wurde der Angeklagte für dauernd aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Gleichzeitig wurde die sofortige Vollziehbarkeit dieser Verfügung angeordnet. Diese Ausweisungsverfügung ist seit dem 7.7.2009 unanfechtbar. Da der Angeklagte mangels gültiger Ausweispapiere derzeit nicht abgeschoben werden kann, besitzt er einen Anspruch auf eine Duldung. Der Angeklagte hatte zuletzt 2008 Kontakt zu Ämtern und Behörden. Seitdem nicht mehr. Er hat sich weder um die Erlangung gültiger Ausweispapiere bemüht, noch um die Erteilung einer Duldung.
Er begab sich nach seiner Haftentlassung am 12.11.2012 zu seinen Verwandten nach L1 und hielt sich dort ca. vier Wochen auf. Danach kam er nach O1. Er hielt sich hier in einer Einrichtung der Drogennothilfe in der ...straße auf und konsumierte wieder Drogen. Am 14.1.2013 wurde der Angeklagte in O1 in dieser Sache vorläufig festgenommen. Am 15.1.2013 wurde gegen ihn ein Haftbefehl erlassen. Er befand sich bis zur Hauptverhandlung in Untersuchungshaft. In diesem Zeitraum zwischen Haftentlassung und erneuter Festnahme wäre es dem Angeklagten zumutbar und möglich gewesen, sich um einen Pass und um die Erteilung einer Duldung zu kümmern. Der Ausländerbehörde war in diesem Zeitraum der Aufenthalt des Angeklagten unbekannt. Sie konnte ihm daher keine Duldung erteilen."
Das Amtsgericht führt aus, dass sich der Angeklagte, indem er sich als Kasache vom 13.11.2012 bis zum 14.01.2013 in der Bundesrepublik Deutschland nach erfolgter Ausweisung aufgehalten habe, ohne im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis und einer Duldung oder eines gültigen nationalen Passes zu sein, wegen illegalen Aufenthalts gemäß §§ 3 Abs. 1, 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und gemäß §§ 4 Abs. 1, 11 Abs. 1, 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG...