Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers
Leitsatz (amtlich)
Nicht jede mögliche Verschlechterung der zu erwartenden Rechtsfolge in der Berufung gebietet die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO. Bei einer möglichen Verschlechterung durch maßvolle Erhöhung einer Geldstrafe (hier wegen einer Urkundenfälschung), weil das Berufungsgericht dem erstinstanzlichen Antrag der Staatsanwaltschaft folgen könnte, ist eine Beiordnung nicht immer geboten.
Normenkette
StPO § 140
Verfahrensgang
LG Kassel (Entscheidung vom 11.01.2023; Aktenzeichen 7 Ns - 2630 Js 5089/22) |
Tenor
Die sofortige Beschwerde der Verurteilten wird auf ihre Kosten (§ 473 Abs. 1 StPO) verworfen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Kassel hat die Angeklagte am 7. September 2022 wegen Urkundenfälschung zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 30 € verurteilt. Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft Kassel, die in der Hauptverhandlung auf die Verhängung einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen plädiert hatte, Berufung eingelegt, die auf das Strafmaß beschränkt wurde. Mit der Berufung erstrebt die Staatsanwaltschaft Kassel die Verhängung einer höheren Geldstrafe.
Mit Antrag vom 8. Dezember 2022 begehrte Rechtsanwalt A, der Antragstellerin als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden. Mit der angefochtenen, in Beschlussform ergangenen Verfügung hat der Strafkammervorsitzende am 11. Januar 2023 den Antrag zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die Beschwerdeführerin mit der sofortigen Beschwerde vom 17. Januar 2023.
II.
Da der den Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers zurückweisende Beschluss des Landgerichts Kassel vom 11. Januar 2023 formlos bekannt gemacht worden war, wurde die einwöchige Beschwerdefrist nach § 311 Abs. 2 StPO nicht in Lauf gesetzt (Meyer-Goßner/Schmitt StPO, 65. Aufl., 2022, § 311 Rn 2). Die nach § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO statthafte und gemäß § 306 Abs. 1 StPO formgerecht eingereichte sofortige Beschwerde hat in der Sache jedoch keinen Erfolg. Zu Recht hat das Landgericht den Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers abgelehnt. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine andere Beurteilung.
Auch wenn der Verteidiger der Angeklagten in seiner Stellungnahme vom 31. Januar 2023 darauf hinweist, dass der Angeklagten bei einer Verurteilung zu einer Geldstrafe von mehr (!) als 90 Tagessätzen aufgrund eines nachfolgenden Eintrags im Führungszeugnis berufliche Nachteile in Form eines Hindernisses bei zukünftigen Bewerbungen drohe, führt dies weder zur Notwendigkeit einer Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO noch zum Fall einer notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO. Ein drohendes Berufsverbot (§ 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO) ist weder dargetan noch ersichtlich. Anderweitige Nachteile in Form von möglichen zukünftigen Hindernissen im Falle weiterer Bewerbungen wären als Folge der Verurteilung hinzunehmen, sind jedoch nicht so schwerwiegend, dass aufgrund der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge (§ 140 Abs. 2 2. Var. StPO) ein Pflichtverteidiger zu bestellen wäre. Erst eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe sollte in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers geben (vgl. Meyer/Goßner/Schmitt StPO, 65. Aufl. 2022, § 140 Rn 23a m.w.N.). Eine solche Strafhöhe ist vorliegend nicht zu erwarten. Auch stehen mögliche zukünftige Bewerbungshindernisse sonstigen schwerwiegenden Nachteilen - wie etwa einem drohenden Freiheitsentzug infolge eines Bewährungswiderrufs - nicht gleich.
Auch im Übrigen erscheint die Mitwirkung eines Verteidigers in der Berufungshauptverhandlung nicht gemäß § 140 Abs. 2 StPO notwendig. Eine notwendige Beiordnung wegen der Schwere der Tat bzw. der zu erwartenden Rechtsfolgen, der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage oder der fehlenden Selbstverteidigungsfähigkeit liegt nicht vor, auch nicht in einer Gesamtschau der vorgenannten Aspekte. Anhaltspunkte dafür, dass die Beschuldigte intellektuell nicht in der Lage wäre, sich selbst zu verteidigen, oder ihr Gesundheitszustand dies nicht zulasse, liegen nicht vor. Bei einer verhängten Geldstrafe von 40 Tagessätzen und einer allenfalls zu erwartenden maßvollen Erhöhung (die Staatsanwaltschaft selbst hatte in der vor dem Amtsgericht durchgeführten Hauptverhandlung eben nicht mehr als 90 Tagessätze beantragt) begründet weder die Schwere der Tat noch die zu erwartende Rechtsfolge die Notwendigkeit einer Beiordnung. Der Verteidiger geht insoweit in der Annahme fehl, dass jegliche mögliche Verschlechterung der zu erwartenden Rechtsfolge eine Beiordnung gebiete. Auch die von ihm zitierte Kommentarliteratur und die darin genannten weiteren Fundstellen in der Rechtsprechung belegen eine derartige Ansicht nicht. Vielmehr betrafen die dortigen Entscheidungen gravierende drohende Verschlechterungen oder ganz erhebliche unterschiedliche Bewertungen der Sach- oder Rechtslage (bspw. freisprechendes Urteil - drohende Verurteilung; Freiheitsstrafe mit oder ohne Bewährung). Eine mögliche Vers...