Leitsatz (amtlich)
Einem der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtigen - ausländischen - Angeklagten ist dann ein Verteidiger beizuordnen, wenn seine auf den sprachlichen Defiziten beruhende Behinderungen der Verteidigungsmöglichkeiten durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers in der Hauptverhandlung nicht völlig ausgeglichen werden kann.
Verfahrensgang
AG Gießen (Entscheidung vom 12.09.2007; Aktenzeichen 5405 Ds 505 Js 25289/05) |
Tenor
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Gießen zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht Gießen hat den Angeklagten mit Urteil vom 12. September 2007 wegen Betruges in Tateinheit Urkundenfälschung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat.
Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit der form - und fristgerecht eingelegten und ebenso begründeten Sprungrevision. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Die Revision hat auch in der Sache Erfolg. Die ordnungsgemäß ausgeführte Verfahrensrüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO in Verbindung mit § 140 Abs. 2 StPO greift durch und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.
Die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht hat in ihrer Stellungnahme vom 03. Januar 2008 dazu folgendes ausgeführt:
"Zwar ist einem Angeklagten nicht allein deshalb ein Pflichtverteidiger beizuordnen, weil er die deutsche Sprache nicht beherrscht.
Bestehen beim Angeklagten sprachbedingte Verständigungsschwierigkeiten, so kann dies allerdings dazu führen, dass die Bestellung eines Verteidigers unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit des Sach- oder Rechtslage eher geboten sein kann, als dies sonst der Fall ist (BVerfGE 64, 135 m.w.N.; BGH StV 2001, 1). Einem der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtigen - ausländischen - Angeklagten ist danach jedenfalls dann ein Verteidiger beizuordnen, wenn seine auf den sprachlichen Defiziten beruhende Behinderungen der Verteidigungsmöglichkeiten durch die - hier erfolgte - Hinzuziehung eines Dolmetschers in der Hauptverhandlung nicht völlig ausgeglichen werden kann. Dies ist regelmäßig anzunehmen bei komplexen Geschehen, die nur durch Zeugenvernehmungen aufgeklärt werden können und bei denen es wesentlich auch auf die Glaubhaftigkeit der Aussagen und die Glaubwürdigkeit der Zeugen ankommt. In solchen Fällen kann nämlich der Angeklagte mit Hilfe des Dolmetschers im wesentlichen nur seine Verteidigungsposition verdeutlichen, nicht aber - was zunächst auch nur durch gründliches Studium der Akten erzielte Kenntnisse voraussetzt - die Aussagen der Zeugen kritisch hinterfragen, etwaige Widersprüche aufzuzeigen oder - gegebenenfalls durch Beweisanträge - deren Glaubwürdigkeit erschüttern (OLG Frankfurt/M. StV 1997, 573). Bereits nach diesen Grundsätzen hätte dem Angeklagten, der in der Hauptverhandlung nicht anwaltlich vertreten war und der sich zur Sache auch nicht eingelassen hat, ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden müssen. Denn aus den Urteilsgründen, die auf die erhobene Sachrüge herangezogen werden können, ergibt sich, dass die Verurteilung des Angeklagten im wesentlichen von der Aussage einer einzigen Belastungszeugin, der Zeugin S.., abhing, nachdem die weitere Zeugin G.. nur das bekunden konnte, was sie zuvor von der Zeugin S.. erfahren hatte.
In einem derartigen Fall ist die Aussage der einzigen Belastungszeugin besonders kritisch zu hinterfragen (ständige Rechtsprechung, vgl. BGH StV 1998, 250; NStZ 2000, 496; 2001, 161; OLG Frankfurt/M., Beschluss vom 22.05.2001 - 2 Ss 121/01 -; Beschluss vom 19.12.2001 - 2 Ss 362/01 -; Beschluss vom 16.06.2003 - 3 Ss 175/03 - = NZV 2004, 158; Beschluss vom 25.08.2003 - 3 Ss 269/03 -; Beschluss vom 26.04.2006 - 1 Ss 344/05 -; Beschluss vom 29.08.2006 - 1 Ss 348/05 -; Beschluss vom 27.02.2007 - 1 Ss 286/06 -; Beschluss vom 02.05.2007 - 1 Ss 365/06 -), was lediglich einem Pflichtverteidiger aufgrund dessen Aktenkenntnis möglich gewesen wäre. Schon dies hätte m.E. die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich gemacht.
Die Bestellung eines Pflichtverteidigers wäre zudem auch noch unter einem weiteren Gesichtspunkt geboten gewesen.
Denn nach einhellig in Rechtsprechung und Schrifttum vertretener Ansicht hat der Angeschuldigte gemäß § 201 StPO i.V.m. Art. 6 Abs. 3a MRK einen Rechtsanspruch auf Bekanntgabe der Anklageschrift mit einer Übersetzung in einer ihm verständlichen Sprache (KG StV 1994, 90; Brandenburgisches OLG StV 2000, 69 f.; OLG Düsseldorf StV 2001, 498; OLG Hamm StV 2004, 364; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl., Art. 6 MRK RN 18 m.w.N.).
Die Mitteilung der Anklageschrift in einer ihm verständlichen Sprache sichert nicht nur den Anspruch des sprachunkundigen Angeklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs im Zwischenverfahren. Sie gewährleistet darüber hinaus auch, dass er - frühzeitig - von dem Ankla...