Entscheidungsstichwort (Thema)
Mitteilungs- und Aufklärungspflichten bei Verständigung
Leitsatz (amtlich)
1. Zu den gerichtlichen Mitteilungs- und Aufklärungspflichten bei einer Verständigung gemäß § 257c StPO, deren Gegenstand auch die Verhängung einer zur Bewährung auszusetzenden Freiheitsstrafe ist (Anschluss an und Abgrenzung zu BGH 59, 172 = NJW 2014, 1831 = StV 2014, 393; BGH [4. Strafsenat] NJW 2014, 3173 = StV 2016, 150 f. = NStZ 2014, 665 sowie BGH [1. Strafsenat] StV 2015, 151 f.).
2. Das Tatgericht muss vor einer Verständigung offenlegen, dass es die Verhängung einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe allein nicht für ausreichend hält, sondern zur Verwirklichung der Genugtuungsfunktion des Strafverfahrens Bewährungsauflagen in Betracht zieht.
3. Zu der Frage der Erstreckung dieser Rechtsprechung auf eine Anweisung zur Anzeige jedes Wohnsitzwechsels.
Normenkette
StPO §§ 257c, 268a, 273 Abs. 1a; StGB §§ 56b, 56c; GG Art. 20 Abs. 2 S. 1, Abs. 3; EMRK Art. 6 Abs. 1
Verfahrensgang
AG Gießen (Entscheidung vom 31.07.2014; Aktenzeichen 505 Ls 501 Js 34073/13) |
Tenor
I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Gießen vom 31.07.2014 aufgehoben.
II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts - Schöffengericht - Gießen zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Gießen hat den Angeklagten durch Urteil vom 31.07.2014 wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Das Urteil beruht auf einer Verständigung (§ 257c StPO).
Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit der form- und fristgerecht eingelegten und ebenso begründeten Sprungrevision, mit der er neben der allgemein erhobenen Sachrüge das Verfahren der Verständigung beanstandet.
Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt hat in ihrer Stellungnahme vom 28.11.2014 beantragt, auf die Verfahrensrüge des Angeklagten hin das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an eine Abteilung des Amtsgerichts Gießen zurückzuverweisen.
II.
Das Rechtsmittel ist zulässig (§§ 333, 335, 341 Abs. 1, 344, 345 StPO) und dringt bereits mit der ordnungsgemäß ausgeführten (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO) Verfahrensrüge durch.
1. Zu Recht beanstandet der Angeklagte, dass das hier durchgeführte Verständigungsverfahren unter einem durchgreifenden Rechtsfehler leidet, weil das Schöffengericht nicht auf die Bewährungsauflagen in Ziff. 2 des Beschlusses vom 31.07.2014 hingewiesen hat.
a) Nach einem beachtlichen Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung (BGHSt 59, 172 = NJW 2014, 1831 = StV 2014, 393 = JR 2014, 355 m. zust. Anm. Bachmann = NJ 2014, 307 m. krit. Anm. Fleischmann; BGH NJW 2014, 3173 f. = StV 2015, 150 f. = NStZ 2014, 665; ebenso schon OLG Saarbrücken NJW 2014, 238; Meyer-Goßner, StPO, 57. Aufl. 2014, § 257c Rn. 12) gebietet es der Grundsatz des fairen Verfahrens, den Angeklagten vor einer Verständigung gem. § 257c StPO, deren Gegenstand auch die Verhängung einer zur Bewährung auszusetzenden Freiheitsstrafe ist, auf konkret in Betracht kommende Bewährungsauflagen gem. § 56b StGB Abs. 1 StGB hinzuweisen.
Die Verständigung im Strafverfahren sei nur dann mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens zu vereinbaren, wenn durch eine vorherige Belehrung sichergestellt ist, dass der Angeklagte vollumfänglich über die Tragweite seiner Mitwirkung informiert ist. Nur in diesem Fall sei gewährleistet, dass er autonom darüber entscheiden könne, ob er von seiner Freiheit, die Aussage zu verweigern, Gebrauch mache oder sich auf eine Verständigung einlasse. Diese Grundsätze erforderten es, dass das Gericht vor einer Verständigung offenlege, dass es die Verhängung einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe allein nicht für ausreichend hält, sondern zur Verwirklichung der Genugtuungsfunktion des Strafverfahrens Bewährungsauflagen in Betracht zieht. Nur dann, wenn der Angeklagte über den gesamten Umfang der Rechtsfolgenerwartung bei der Verständigung informiert sei, könne er autonom eine Entscheidung über seine Mitwirkung treffen (BGHSt 59, 172 Tz. 11).
b) Diese Judikatur ist, soweit ersichtlich, bislang nicht grundsätzlich in Frage gestellt worden. Indes hat es der 1. Strafsenat des BGH in seinem Beschl. v. 07.10.2014 (1 StR 426/14 = StV 2015, 151, 152 unter b) ausdrücklich dahinstehen lassen, "ob dieser Rechtsprechung bei Verfahrensabsprachen (§ 257c StPO), auf deren Grundlage das Tatgericht eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe bei Erteilung von Bewährungsauflagen (§ 56b StGB) verhängt, uneingeschränkt zu folgen wäre".
Der erkennende Senat macht sich die hier zum Ausdruck kommenden Bedenken nur insoweit zu eigen, als die Grundlage diese Rechtsprechung vom 4. Strafsenat ausdrücklich (BGHSt 59, 172 Tz. 9) im Prinzip eines fairen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 1 EMRK) gesehen wird. Dieses Prinzip hat seine legitime Funktion be...