Leitsatz (amtlich)
1. Ein mit einer Herausnahme des betroffenen Kindes aus dem elterlichen Haushalt verbundener Entzug der elterlichen Sorge ist jedenfalls dann nicht mehr verhältnismäßig iSd. §§ 1666, 1666a BGB, wenn der bei den Eltern aufgrund familiär bedingter emotionaler Einschränkungen drohenden latenten Kindeswohlgefährdung auch in einer Einrichtung der Jugendhilfe nicht wirksam begegnet werden kann.
2. Die Anweisung muslimischer Eltern an ihre zwölfjährige Tochter, ein Kopftuch zu tragen, rechtfertigt alleine - ohne Hinzutreten darüber hinausgehender, dem Kindeswohl abträglicher Umstände - noch nicht die Annahme einer Kindeswohlgefährdung.
3. Kommt es zwischen Kind und Eltern zu primär entwicklungsbedingten Auseinandersetzungen, denen sich das Kind durch maladaptive Strategien (Vermeidung und Rückzug) mit der Folge emotionaler Vereinsamung entziehen will, kann zur Vermeidung einer damit uU. einhergehenden Beeinträchtigung des Kindeswohls die Einrichtung einer Erziehungsbeistandschaft geboten sein.
Verfahrensgang
AG Frankfurt am Main (Aktenzeichen 404 F 4229/21) |
Tenor
Die angefochtene Entscheidung wird abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Dem Kindesvater wird die elterliche Sorge für das betroffene Kind X., geb. am ..., zur gemeinsamen Ausübung mit der Kindesmutter übertragen.
Ferner wird festgestellt, dass für die Ergreifung weitergehender familiengerichtlicher Maßnahmen zur Regelung der elterlichen Sorge für X. derzeit keine Veranlassung besteht.
Von der Erhebung gerichtlicher Kosten für das Verfahren erster Instanz und für das Beschwerdeverfahren wird ebenso abgesehen, wie von der Anordnung einer Erstattung außergerichtlicher Kosten.
Der Wert des Rechtsmittelverfahrens wird festgesetzt auf 4.000 EUR.
Der Kindesmutter wird ratenfreie Verfahrenskostenhilfe für den zweiten Rechtszug unter Beiordnung von Rechtsanwalt ... bewilligt.
Dem Kindesvater wird ratenfreie Verfahrenskostenhilfe für den zweiten Rechtszug unter Beiordnung von Rechtsanwalt ... bewilligt.
Gründe
I. Gegenstand der Beschwerde der Kindeseltern ist einerseits die Entziehung der elterlichen Sorge für die aus ihrer inzwischen geschiedenen Ehe stammende dreizehnjährige Tochter X., andererseits der mit dem von ihm eingelegten Rechtsmittel verbundene Antrag des Vaters, ihm die elterliche Sorge für X. zur gemeinsamen Ausübung mit der Kindesmutter zu übertragen.
Neben X. sind aus der Ehe ihrer Eltern ihre beiden älteren Brüder A. (...) und B. (...) hervorgegangen. Die Familie lebte zunächst in Z., wo sich die Kindeseltern 2001, als die Kindesmutter lediglich 15 Jahre alt war, nach islamischem Ritus trauen ließen; 2004 folgte die standesamtliche Hochzeit. 2013 floh die Kindesmutter mit den drei Kindern wegen - überwiegend unstreitiger - massiver psychischer und physischer Gewalt des Kindesvaters nach Y., wo ihr 2014 mit Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Y. (Az. ... SO) die elterliche Sorge für alle drei Kinder zur alleinigen Ausübung übertragen wurde. Danach unterzog sie sich vier Jahre lang einer von ihr als hilfreich beschriebenen Therapie zur Aufarbeitung ihrer Erlebnisse. Sie ist überzeugte Muslimin, die daher ua. Wert auf das Tragen eines Kopftuchs legt.
Die beiden älteren Brüder X.s sind infolge pubertätsbedingter Schwierigkeiten mit ihrer Mutter wieder zum Kindesvater nach Z. zurückgekehrt, seit 2015 finden zwischen Tochter und Vater gut verlaufende Umgänge statt. Die Kindesmutter hat inzwischen aus ihrer Beziehung mit einem neuen Lebensgefährten drei weitere Kinder bekommen, Q. (3), R. (2) und S. (1), auf die X. in der Vergangenheit auch aufpassen musste. 2020 kam es auch in der neuen Beziehung der Kindesmutter zu einem Vorfall häuslicher Gewalt; das Jugendamt installierte im zeitlichen Zusammenhang damit eine hochfrequente Familienhilfe, die zu einer Stabilisierung der Situation führte und bis heute, wenn auch in geringerem zeitlichem Umfang, fortbesteht. Die Kindesmutter kooperiert gut mit dem Jugendamt.
Im Juni 2021 gerieten die Kindesmutter und X. in Streit, weil das damals erst zwölfjährige Mädchen eine altersunangemessene, den Usern offiziell erst ab 18 Jahren zugängliche Handy-Chat-App mit sexualisierten Inhalten nutzte. Nach dem Löschen der App installierte X. diese wieder. Der Streit zwischen Mutter und Tochter - in dessen Verlauf auch die Abneigung X.s gegen das von der Mutter gewünschte Tragen eines Kopftuchs und ihre aus ihrer Sicht übermäßige Inanspruchnahme für die Kinderbetreuung eine Rolle spielten - eskalierte schließlich mit der Folge, dass X. vorgab, eine Freundin besuchen zu wollen, sich tatsächlich aber an das Jugendamt wandte und von diesem auf ihren Wunsch hin, zunächst mit Zustimmung der Kindesmutter, in Obhut genommen wurde.
Nach Widerruf der Zustimmung der Kindesmutter informierte das Jugendamt am 05.07.2021 das Familiengericht über die Inobhutnahme, auf die dieses dem Kind eine Verfahrensbeiständin bestellte und Anhörungs- und Erörterungstermin auf den 04. und auf den 10.08.2021 anberaumte. Im Term...