Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Einstellung des Verfahrens nach § 206a Abs. 1 StPO wegen Anreise aus Russland
Leitsatz (amtlich)
Etwaige durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hervorgerufene Einreiseschwierigkeiten für die sich in der Russischen Föderation aufhaltenden Angeklagten stellen kein andauerndes Verfahrenshindernis im Sinne von § 206a StPO dar.
Normenkette
StPO § 206a
Verfahrensgang
LG Darmstadt (Entscheidung vom 23.02.2023; Aktenzeichen 7740 Js 248989/14) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main wird der Beschluss der 18. großen Strafkammer - Wirtschaftsstrafkammer - des Landgerichts Darmstadt vom 23. Februar 2023 aufgehoben.
Gründe
I.
Das Landgericht Darmstadt verurteilte die Angeklagten erstinstanzlich auf Grundlage der am 16. Dezember 2014 erhobenen Anklage und der vom 8. Juni 2015 bis zum 14. Juli 2016 durchgeführten Hauptverhandlung jeweils wegen Beihilfe zur Untreue und zur Steuerhinterziehung in fünf Fällen, wobei die Angeklagte X zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren und 9 Monaten und der Angeklagte Y zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten verurteilt wurde. Die Angeklagte X befand sich in dieser Sache vom 30. Oktober 2013 bis zum 26. Juni 2017 in Untersuchungshaft, der Angeklagte Y vom 30. Oktober 2013 bis 26. Oktober 2016. Seitdem halten sich die Angeklagten, beide russische Staatsbürger, in ihrem Heimatland auf.
Auf die gegen das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 14. Juli 2016 gerichteten Revisionen der Angeklagten änderte der Bundesgerichtshof durch Urteil vom 23. Oktober 2018 (Az. ...) den Schuldspruch dahingehend, dass die Angeklagten jeweils der Beihilfe zur Untreue in Tateinheit mit Beihilfe zur Steuerhinterziehung schuldig sind und hob den gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen auf - mit Ausnahme der Feststellungen zum Untreueschaden im „Fall 2“ (Z Ltd.). Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hob der Bundesgerichtshof das Urteil auf, jedoch ließ er alle Feststellungen mit Ausnahme derjenigen zur Amtsträgereigenschaft bestehen. Im Umfang der Aufhebung hat der Bundesgerichtshof die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Das Verfahren liegt nach Beendigung des Revisionsverfahrens seit dem 11. März 2019 der 18. großen Strafkammer - Wirtschaftskammer - des Landgerichts Darmstadt vor. Eine Hauptverhandlung wurde seitdem wegen vorrangiger Haftsachen nicht anberaumt.
Im Jahr 2021 wurden die Haupttäter, zu deren Taten die hier Angeklagten Beihilfe geleistet hatten, von einer weiteren Strafkammer des Landgerichts Darmstadt rechtskräftig zu Freiheitsstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt wurden, verurteilt, ein Verfahren endete mit einer Einstellung nach § 153a Abs. 2 StPO.
Mit Beschluss vom 23. Februar 2023 hat das Landgericht Darmstadt das hiesige Verfahren gemäß § 206a Abs. 1 StPO eingestellt und die Kosten, nicht jedoch die notwendigen Auslagen der Angeklagten, der Staatskasse auferlegt. Zur Begründung stützt sich die Kammer auf Ausreiseschwierigkeiten infolge der Reisebeschränkungen der Europäischen Union nach dem von Russland initiierten Angriffskrieg gegen die Ukraine sowie auf mögliche zu erwartende Repressionen der Angeklagten bei deren Rückkehr nach Russland, wodurch die Angeklagten bei einem Erscheinen zu einer neuen Hauptverhandlung unverhältnismäßig belastet würden. Zudem läge die Straferwartung nach Abschluss einer neuen Hauptverhandlung ganz erheblich unter der Dauer der erlittenen Untersuchungshaft. In der Gesamtschau dieser besonderen Umstände geht die Kammer vom Vorliegen eines dauerhaften Verfahrenshindernisses im Sinne des § 206a StPO aus. Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die vorgenannte Entscheidung Bezug genommen.
Gegen den bei der Staatsanwaltschaft am 7. März 2023 eingegangenen Beschluss des Landgerichts Darmstadt vom 23. Februar 2023 richtet sich die am 9. März 2023 erhobene und an diesem Tag beim Landgericht Darmstadt eingegangene sofortige Beschwerde.
Die Angeklagten hatten rechtliches Gehör und haben mit anwaltlichen Schriftsätzen vom 14. April 2023, 17. April 2023, 10. Mai 2023 und 15. Mai 2023, auf die Bezug genommen wird, zu der sofortigen Beschwerde der Staatsanwaltschaft Stellung genommen.
II.
Die nach § 206a Abs. 2 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist begründet.
Die von der Kammer dargelegten Umstände stellen keine Verfahrenshindernisse im Sinne des § 206a StPO dar. Grundvoraussetzung einer Einstellung des Verfahrens nach § 206a Abs. 1 StPO ist das Bestehen eines Verfahrenshindernisses, welches andauert, jedenfalls aber erheblich weiter wirkt als ein vorläufiges Verfahrenshindernis (BeckOK-Ritscher, 47. Edition, StPO § 206a. Rn 4; Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Aufl. 2023, StPO § 206a Rn 2). Ein zeitiges, behebbares Hindernis berechtigt nicht zum Vorgehen nach § 206a StPO, vielmehr eröffnet hierfür § 205 StPO die Möglichkeit...