Leitsatz (amtlich)
1.
Ein Widerruf darf grundsätzlich auch nach Ablauf der Bewährungszeit noch ausgesprochen werden, wobei es keine feste zeitliche Grenze gibt, ab der ein Widerruf unzulässig wäre. Insbesondere ist die Frist des § 56 g II 2 StGB auf § 56 f I StGB nicht anwendbar.
2.
Es müssen vielmehr lediglich die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere das Gebot einer angemessenen Beschleunigung des Verfahrens, gewahrt bleiben. Ein Widerruf ist danach nur dann unstatthaft, wenn entweder die Widerrufsentscheidung durch das hierfür zuständige Gericht oder aber das Anlassverfahren für den Widerruf ungebührlich verzögert werden und der Verurteilte darauf vertrauen konnte, seine neuerliche Straffälligkeit werde nicht mehr mit einem Widerruf geahndet.
3.
Die Vertrauensbildung ist dabei kein plötzliches Ereignis, sondern ein sich entwickelnder Prozess, in dessen Verlauf auch die Bearbeitungszeiten bei Gerichten und Staatsanwaltschaften berücksichtigt werden muss. Ferner sind Art, Schwere und Häufigkeit der in der Bewährungszeit begangenen Taten von Bedeutung. Je häufiger und schwerer der Verurteilte in der Bewährungszeit gegen die Erwartung, welche der Strafaussetzung zu Grunde lag, verstoßen hat, desto eher muss sich bei Verurteilten das Bewusstsein bilden, dass sich lediglich die justizförmige Abwicklung des auf jeden Fall zu erwartenden Widerrufsverfahrens verzögert hat.
Verfahrensgang
LG Darmstadt (Aktenzeichen StVK 1210/96) |
Tenor
Die Beschwerde wird auf Kosten des Verurteilten (§ 473 I StPO) verworfen.
Gründe
Das Rechtsmittel ist zulässig, namentlich ist die einwöchige Einlegungsfrist des § 311 II StPO gewahrt. Hierzu hat die Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht in ihrer Stellungnahme vom 24.03.2003 zutreffend ausgeführt:
"Die einwöchige Beschwerdefrist gemäß §§ 311 II, 453 II 3 StPO ist durch die öffentliche Zustellung des Widerrufsbeschlusses im Juni 2002 (Bl. 1200 Rs d. A. Bd. IV) nicht in Gang gesetzt worden, da die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung wegen unbekannten Aufenthalts des Verurteilten zurzeit der gerichtlichen Anordnung am 24.05.2002 nicht erfüllt waren.
Die Inhaftierung des Verurteilten, der sich seit dem 16.11.2000 ununterbrochen im Freiheitsentzug in anderer Sache befindet (Bl. 204, 205, 208, 209 Bew-H), war aktenkundig.
Sie ergab sich sowohl aus der am 27.02.2001 zum Bewährungsheft gelangten Vollstreckungsübersicht der Justizvollzugsanstalt Nürnberg (vgl. Bl. 130 Bew-H), als auch aus der Mitteilung nach Nr. 13 der Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth vom 22.02.2001 (Bl. 123 bis 127 Bew-H).
Demzufolge war die öffentliche Zustellung des Widerrufsbeschlusses der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Darmstadt durch Aushang an der Gerichtstafel im Juni 2001 unwirksam (vgl. OLG Celle MDR 176, 948; Meyer-Goßner, StPO, 46. Auflage, § 40 Rnr. 4 m. w. N.).
Nach der Zustellung des Widerrufsbeschlusses in der Justizvollzugsanstalt Weiterstadt mit Gefangenenzustellungsurkunde am 12.12.2002 ging die sofortige Beschwerde vom 19.12.2002 innerhalb der gemäß § 311 II StPO einwöchigen Frist zur Einlegung des Rechtsmittels bei Gericht ein."
Das Rechtsmittel hat indes in der Sache keinen Erfolg.
Durch die innerhalb der Bewährungszeit begangenen, erheblichen und teilweise einschlägigen Straftaten, die Gegenstand der Verurteilungen durch das Landgericht Nürnberg vom 31.10.2001 und -einbezogen hierin- das Amtsgericht Nürnberg vom 05.02.1001 waren und zur Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 3 Monaten geführt haben, wurde die Erwartung, welche der Reststrafausstrafaussetzung zu Grunde lag, eindeutig widerlegt (§§ 57 III, 56 f I Nr.1 StGB). Mildere Maßnahmen als der Widerruf (§§ 56 f II StGB) kommen angesichts der Gewichts der der Nachverurteilung durch das Landgericht Nürnberg zu Grunde liegende Tat und der derzeit noch nicht ausreichend günstigen Sozialprognose des Verurteilten nicht in Betracht.
Der Umstand, dass die Bewährungszeit bereits vor der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer, nämlich mit Ablauf des 19.12.2000 verstrichen war, steht dem Widerruf - entgegen der Ansicht der Verteidigung - nicht entgegen. Ein Widerruf darf grundsätzlich auch nach Ablauf der Bewährungszeit noch ausgesprochen werden (st. Rspr. des Senats vgl. Beschl. v. 08.05.2002 -3 Ws 482-485 und vom 24.07.2001 -3 Ws 705/01 m.w.N.; OLG Koblenz, MDR 1985, 70; OLG Hamm, NJW Hamm, NJW 1972, 500; Horn, in: SK-StGB, § 56f Rn 33,37; Tröndle/Fischer, StGB, 51. Aufl., § 56f Rn 2a; einschränkend: Stree, in Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl., § 56f Rn 13 -jew. m.w.N.), wobei es keine feste zeitliche Grenze gibt, ab der ein Widerruf unzulässig wäre (vgl. Senat a.a.O.; Tröndle/Fischer ebenda; OLG Hamm, NStZ 1984, 362 [363]; OLG Zweibrücken, NStZ 1988, 501; OLG Stuttgart, StV 1985, 380).
Insbesondere ist - entgegen Stree (ebenda) und der Auffassung der Verteidigung die Frist des § 56 g II 2 StGB auf § 56 f I StGB nicht anwendbar (Senat a.a.O.; OLG Hamm, NStZ 1998, ...