Entscheidungsstichwort (Thema)
Behandlungsabbruch aufgrund mutmaßlichen Einverständnisses
Leitsatz (amtlich)
Zu den Anforderungen an ein mutmaßliches Einverständnis eines Patienten für den Abbruch einer ärztlichen Behandlung oder Maßnahme
Normenkette
BGB §§ 1904, 1906
Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main (Aktenzeichen 45 XVII MUE 65/98) |
AG Frankfurt am Main |
Tenor
Der angefochtene Beschluß und der Beschluß des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 14.5.1998 werden aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Prüfung und Entscheidung, an das Amtsgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen.
Wert: 5.000,– DM.
Gründe
Die fast 85-jährige Betroffene befindet sich seit dem 29.12.1997 in stationärer Behandlung im Krankenhaus Nordwest in Frankfurt am Main. Ein ausgedehnter Hirninfarkt hatte zu einer anhaltenden Bewußtlosigkeit (Koma) mit vollständigem Verlust der Bewegungs- und Kommunikationsfähigkeit geführt. Sie wird über eine Magensonde (PEG) ernährt. Eine Besserung ihres Zustandes ist nicht zu erwarten. Zu einer freien Willensbestimmung ist sie nicht in der Lage.
Nach Bestellung einer Verfahrenspflegerin, einem Anhörungsversuch und der Einholung eines fachärztlichen Gutachtens hat das Amtsgericht mit Beschluß vom 9.3.1998 die Tochter der Betroffenen zur Betreuerin bestellt (Aufgabenkreis: alle Angelegenheiten).
Mit Schreiben vom 11.3./15.4.1958 hat die Betreuerin – weil ihre Mutter früher geäußert habe, kein langes Sterben ertragen zu wollen – die vormundschaftsgerichtliche Genehmigung nach § 1904 BGB zu einem Behandlungsabbruch durch Einstellung der Sondenernährung beantragt, die ärztlicherseits – empfohlen worden ist. In einem dazu eingeholten Gutachten vom 5.5.1998 wird ausgeführt, daß bei anhaltendem Koma eine relevante Besserung (bewußtes und selbstbewußtes Leben) nicht mehr zu erwarten sei. Offen bleibe, ob die Betroffene ihren Zustand als leidvoll erlebe und Schmerzen erdulden müsse. Bei Abbruch der Sondenernährung bestehe die Gefahr, daß sie im Verlaufe von Wochen bis Monaten sterbe. Wenn davon ausgegangen werden könne, daß der Verzicht auf eine künstliche Lebensverlängerung ihrem anzunehmenden Willen entspreche, sei die Einstellung der Kalorienzufuhr – bei Fortsetzung der Versorgung mit Flüssigkeit – eine vertretbare Maßnahme.
Nachdem das Amtsgericht mit Beschluß vom 14.5.1998 gemäß § 1904 BGB die Einwilligung der Betreuerin zu einer bei der Betroffenen wegen einer Gewebsnekrose … zunehmenden Oberschenkelamputation links genehmigt hatte, wies es mit Beschluß vom gleichen Tage den Antrag der Betreuerin, dem auch die Verfahrenspflegerin zugestimmt hatte, auf Genehmigung ihrer Einwilligung in den Abbruch der Sondenernährung zurück. Zur Begründung wird ausgeführt, daß entgegen der Entscheidung des Bundesgerichtshofs (NJW 95, 204 = BGHSt 40, 257 = NStZ 95, 80 = JR 95, 335 MDR 95, 80) § 1904 BGB nicht analog auf eine gezielte Herbeiführung des Todes angewendet werden könne. Dies habe der Gesetzgeber zu regeln.
Unter Vorlage eidesstattlicher Versicherungen der Betreuerin und ihres Bruders, nach denen sich die Betroffene anläßlich des Todes von Angehörigen gegen ein langes Siechtum und eine künstliche Lebensverlängerung auch bei sich ausgesprochen habe, legte die Verfahrenspflegerin Beschwerde ein. Das Landgericht wies diese Beschwerde mit Beschluß vom 19.5.1998 aus den Gründen des amtsgerichtlichen Beschlusses zurück. Gegen diesen Beschluß richtet sich die weitere Beschwerde der Verfahrenspflegerin.
Die weitere Beschwerde ist zulässig. Die Verfahrenspflegerin, die vom Landgericht auch für die zweite Instanz bestellt worden ist, konnte die weitere Beschwerde einlegen und begründen (§ 67 II FGG). Sie ist als gesetzliche Vertreterin der Betroffenen (Bassenge/Herbst, FGG/RPflG, 7. Aufl., § 67 Rn 10; Keidel/Kuntze/Winkler, FGG, 13. Aufl., § 67 Rn 11) in deren Interesse auch beschwerdeberechtigt (Keidel/Kuntze/Winkler, a.a.O., § 69g Rn 8, 10). Dem steht nicht entgegen, daß das Amtsgericht einen „Antrag” der Betreuerin zurückgewiesen hat, denn das Verfahren nach § 1904 BGB ist kein Antragsverfahren (Bienwald, Betreuungsrecht, 2. Aufl., § 1904 Rn 28) mit der Folge, daß nur der – abgewiesene – Antragsteller beschwerdeberechtigt wäre (§ 20 II FGG). Die weitere Beschwerde ist auch begründet und führt zur Sprungzurückverweisung. Die Vorentscheidungen sind mit der Ablehnung der entsprechenden Anwendung des § 1904 BGB nicht rechtsfehlerfrei ergangen. Der Senat, der in Übereinstimmung mit der Entscheidung des BGH (NJW 95, 204) erkennen will und deshalb nicht zur Vorlage nach § 28 II FGG verpflichtet ist, ist der Auffassung, daß § 1904 BGB hier entsprechend anwendbar ist (zustimmend auch Dörner ZRP 96, 93/96; Kutzer NStZ 94, 110/114; Verrel JZ 96, 224/229; Vogel MDR 95, 337; Schöch NStZ 95, 153/156).
Vom Sachverhalt her ist der vorliegende Fall mit dem vom BGH (a.a.O.) – allerdings strafrechtlich – entschiedenen vergleichbar. Es liegt mangels unmittelbarer Todesnähe keine geplante sog. passive Sterbehilfe i.e.S. vor (vgl. zu den Begriffen der Sterbehi...