Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslegung des eingelegten Rechtsmittels und Fertigstellung des Protokolls vor der Zustellung des Urteils

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das gemäß § 346 Abs. 2 S. 1 StPO angerufene Revisonsgericht hat auch zu prüfen, ob das Rechtsmittel überhaupt als Revision anzusehen ist. Eine Auslegung der Rechtsmittelerklärung ist veranlasst, wenn mehrere Rechtsmittel zulässig sind und unklar bleibt, welches eingelegt werden soll. Das Rechtsmittel ist so zu deuten, dass der erstrebte Erfolg möglichst erreichbar ist; im Zweifel gilt das Rechtsmittel als eingelegt, das die umfassendere Nachprüfung erlaubt.

2. Eine wirksame Zustellung eines Urteils setzt gemäß der zwingenden Verfahrensvorschrift des § 273 Abs. 4 StPO die vorherige Fertigstellung des Protokolls voraus. Gleichwohl kann ein Rechtsmittel bereits zuvor wirksam eingelegt werden. Allerdings steht es dem Angeklagten frei, innerhalb der mit der wirksamen Zustellung des Urteils in Gang gesetzten Rechtsmittelfrist einen Wechsel in der Art des Rechtsmittels zu erklären.

 

Normenkette

StPO §§ 300, 273 Abs. 4

 

Verfahrensgang

AG Hanau (Entscheidung vom 09.08.2023; Aktenzeichen 2570 Js 5968/22)

 

Tenor

Auf den Antrag des Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Hanau vom 9. August 2023 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbehelfs - an das Amtsgericht Hanau zurückgegeben. Das Rechtsmittel des Angeklagten ist als Berufung zu behandeln.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht Hanau erließ gegen den Angeklagten unter dem 25. Mai 2022 einen Strafbefehl, mit welchem er wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen à 30 € verurteilt wurde. Zu der auf seinen form- und fristgerecht eingelegten Einspruch anberaumten Hauptverhandlung am 25. Juli 2022 erschien der Angeklagte nicht. Nachdem dem Angeklagten nach Vorlage eines ärztlichen Attests mit Beschluss des Amtsgerichts Hanau vom 2. August 2022 von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt worden war, wurde ein neuer Hauptverhandlungstermin zunächst für den 19. September 2022 und nach erneuter Vorlage eines ärztlichen Attests ein solcher für den 24. April 2023 anberaumt. Bereits mit der Ladung wurde der Angeklagte darauf hingewiesen, dass das zuletzt übersandte ärztliche Attest keinen ausreichenden Entschuldigungsgrund für ein etwaiges Nichterscheinen für den zuletzt anberaumten Termin darstellt.

Am Morgen des 24. April 2023 teilte der Angeklagte per E-Mail mit, aufgrund einer mentalen Dysfunktion und Überbelastung, wie dies mehrfach bereits durch einen Arzt festgestellt worden sei, nicht zur Hauptverhandlung erscheinen zu können. Nachdem der Angeklagte entsprechend seiner Ankündigung zur Hauptverhandlung nicht erschienen war, verwarf das Amtsgericht den Einspruch gegen den Strafbefehl. Dieses Verwerfungsurteil vom 24. April 2023 wurde dem Angeklagten am 17. Juni 2023 zugestellt.

Hiergegen legte der Angeklagte mit dem bei den Justizbehörden am 22. Juni 2023 eingegangenen Schreiben vom 21. Juni 2023 „der Ordnung halber, um Ihre rechtlichen Voraussetzungen zu erfüllen und gleichsam keine Fristen zu versäumen […] Revision“ ein. Das Amtsgericht hat das Rechtsmittel als Sprungrevision gemäß § 335 Abs. 1 StPO gewertet und nach Anhörung des Angeklagten die Revision nach Ablauf der in § 345 Abs. 1 StPO vorgesehenen Revisionsbegründungsfrist mit Beschluss vom 9. August 2023 als unzulässig verworfen. Auf die dem Angeklagten vor der Verwerfung eingeräumte Gelegenheit zur Stellungnahme teilte er mit einem offenkundig fehlerhaft auf den 6. Juni 2023 datierten Schreiben, das am 8. August 2023 bei den Justizbehörden Hanau einging, abermals mit, ausweislich ärztlicher Befundberichte, die er gegebenenfalls übersenden könnte, unter einer „nicht unerheblichen mentalen Belastung“ zu leiden.

Gegen diesen Beschluss vom 9. August 2023 legte der Angeklagte nach Zustellung desselben am 12. August 2023 mit Schreiben vom 15. August 2023 „Widerspruch/Einspruch oder dergleichen“ ein; dieses Schreiben ging bei den Justizbehörden Hanau am 16. August 2023 ein.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 20. September 2023 beantragt, den Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts zu verwerfen.

II.

Der von dem Angeklagten eingelegte „Widerspruch/Einspruch oder dergleichen“ ist gemäß § 300 StPO als Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 StPO auszulegen, da es sich hierbei um den alleinigen statthaften Rechtsbehelf gegen den angefochtenen Beschluss handelt.

Der Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 S. 1 StPO ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

Das gemäß § 346 Abs. 2 S. 1 StPO angerufene Revisionsgericht hat die Zulässigkeit der Revision in umfassender Weise zu prüfen. Diese Prüfung umfasst auch die - vorgelagerte - Frage, ob das Rechtsmittel überhaupt als Revision bzw. hier als Sprungrevision oder als Berufung anzusehen ist (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 7. Dezember 2017 - 6 Rv 34 Ss 555/17 = BeckRS 2017, 13893...

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