Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung von U-Haftbefehlen wegen Verletzung des Beschleunigungsgebotes trotz dringenden Tatverdachts
Normenkette
StPO § 112 Abs. 2, § 121; GG Art. 2 Abs. 2; EMRK Art. 5 Abs. 3
Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 30.06.2023; Aktenzeichen 5-24 KLs - 5760 Js 255720/22) |
Tenor
Auf die Beschwerden der Staatsanwaltschaft gegen die Außervollzugsetzungsbeschlüsse des Landgerichts Frankfurt am Main - 24. große Strafkammer - vom 30. Juni 2023 werden die Haftbefehle des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 17. November 2022 und 15. Februar 2023 aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die den Angeschuldigten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I.
Die Angeschuldigten Vorname1 A, Vorname2 A, B und C befinden sich aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 17. November 2022 seit diesem Tag in Untersuchungshaft. Der Angeschuldigte D befindet sich aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 15. Februar 2023 seit dem 19. Februar 2023 in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main hat unter dem 14. April 2023 Anklage zum Landgericht Frankfurt am Main - große Strafkammer - erhoben.
Mit Verfügung vom 20. April 2023 verfügte der Vorsitzende die Zustellung der Anklageschrift mit einer Äußerungsfrist von zwei Wochen. Die Zustellungen wurden bis zum 4. Mai 2023 bewirkt (ohne Übersetzung der Anklage). Die zweiwöchige Äußerungsfrist endete mithin am 19. Mai 2023. Erst am 8. Mai 2023 gingen weitere Nachgänge, darunter der Vermerk über die Sichtung sichergestellter Endgeräte des Mitangeschuldigten D vom 5. April 2023 und ein Ermittlungsbericht zu neuen Ermittlungsansätzen nach Vernehmung des Angeschuldigten C vom 2. Mai 2023 bei dem Landgericht ein. Unter dem 12. Mai 2023 verfügte der Vorsitzende ergänzende Akteneinsicht an alle Verteidiger und regte gegenüber der Staatsanwaltschaft die zeugenschaftliche Vernehmung des gesondert Verfolgten E an. Erst am 30. Mai 2023 ging die bereits bei Anklageerhebung beauftragte Übersetzung der Anklageschrift beim Landgericht ein, die der Vorsitzende am 31. Mai 2023 an die Angeschuldigten Vorname1 A, Vorname2 A und B verfügte. Die Zustellungen waren am 5. Juni 2023 bewirkt, so dass die Äußerungsfrist nicht vor dem 19. Juni 2023 abgelaufen war. Da auch der Kammer nach Ablauf der Äußerungsfrist regelmäßig ein Spielraum zur Prüfung und Beratung über die Eröffnung zusteht, ist Eröffnungsreife nicht vor Ende der ersten Juliwoche eingetreten. Unter dem 24. Mai 2023 zeigte der Vorsitzende Überlastung an und ersuchte das Präsidium des Landgerichts Frankfurt am Main, die Überlastung der 24. Strafkammer festzustellen und vorliegendes Verfahren auf eine andere Strafkammer zu übertragen. Zur Begründung verweist der Vorsitzende unter Vorlage des Verhandlungskalenders der Kammer bis Ende 2023 auf weitere bei der Kammer anhängige Verfahren. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Überlastungsanzeige vom 24. Mai 2023 verwiesen. In der Präsidiumssitzung vom 31. Mai 2023 wurde die vorgenannte Überlastungsanzeige erörtert. Eine Überlastung wurde mehrheitlich nicht festgestellt. Auf eine entsprechende Nachfrage des Senats im Haftprüfungsverfahren betreffend die Angeschuldigten Vorname1 A, Vorname2 A, B und C (…) teilte der Vorsitzende unter dem 27. Juni 2023 mit, dass aufgrund der Belastungssituation ein Beginn der Hauptverhandlung vor Ende Oktober nicht und die Fortsetzung in den Folgewochen allenfalls punktuell möglich sein wird.
Mit Beschlüssen vom 30. Juni 2023 setzte die Kammer die Haftbefehle des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 17. November 2022 und 15. Februar 2023 gegen Auflagen außer Vollzug.
Die Kammer begründet die Außervollzugsetzung im Wesentlichen damit, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Außervollzugsetzung gebieten würde. Bei Abwägung des Strafverfolgungsinteresses des Staates und des Freiheitsanspruchs der Angeschuldigten habe die Kammer im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit auch den Beschleunigungsgrundsatz, dem in Haftsachen besondere Bedeutung zukomme, zu berücksichtigen. Vorliegend käme aufgrund der Belastungssituation der Kammer - für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens - die Durchführung der Hauptverhandlung vor Januar 2024 nicht in Betracht.
Unter dem 30. Juni 2023 hat die Staatsanwaltschaft Beschwerde gegen die Beschlüsse sämtliche Angeschuldigten betreffend eingelegt und die Anordnung der Aussetzung der Vollziehung gemäß § 307 Abs. 2 StPO beantragt. Zur Begründung führt die Staatsanwaltschaft an, dem sich angesichts der hohen Straferwartung ergebenden Fluchtanreiz könne durch die angeordneten Maßnahmen und Auflagen nicht in geeigneter Weise entgegengetreten werden. Die Kammer gehe außerdem von einem falschen Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen des § 116 StPO aus. Halte die Kammer den Vollzug der Haftbefehle für nicht mehr verhältnismäßig, hätte sie die Haftbefehle aufheben müssen. Schließlich...