Leitsatz (amtlich)
1. Zu den Anforderungen an die Verfahrensrüge eines Verstoßes gegen die Vorschriften über das Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO).
2. Die Verurteilung eines Angeklagten, der Humanmedizin im 7. Semester studiert, zu einer Geldstrafe von mehr als 90 Tagessätzen kann wegen § 3 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 Bundesärzteordnung erhebliche Auswirkungen auf die Beurteilung der Zuverlässigkeit zur Ausübung des ärztlichen Berufs haben und sich auf die Chancen eines Bewerbers am Arbeitsmarkt auswirken. Deshalb müssen sich die Strafzumessungserwägungen eines Urteils mit diesen Auswirkungen auseinandersetzen.
Normenkette
StPO § 238 Abs. 2, § 249 Abs. 2, § 344 Abs. 2 S. 2; StGB § 46; BZRG § 4 Nr. 1, § 32 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 5 Buchst. a); BÄO § 3 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2
Verfahrensgang
AG Gießen (Entscheidung vom 22.02.2017; Aktenzeichen 505 Ds 302 Js 29831/15) |
Tenor
I.
Auf die Sprungrevision der Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts - Strafrichter - Gießen vom 22.02.2017 im Rechtsfolgenausspruch mit den zuzuordnenden Feststellungen aufgehoben.
Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
II.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Gießen zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht - Strafrichter - Gießen hat die Angeklagte am 22.02.2017 wegen Betruges in zwei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 135 Tagessätzen zu je 35,- EUR verurteilt.
Mit ihrer zulässigen Sprungrevision rügt die Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts und beanstandet das Verfahren.
Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. hat am 25.09.2017 beantragt, die Revision des Angeklagten als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.
II.
Die Revision der Angeklagten (§§ 333, 335, 341 Abs. 1, 344 Abs. 1, 345 StPO) hat in der Sache einen (zumindest vorläufigen) Teilerfolg, soweit sie sich gegen den Rechtsfolgenausspruch richtet.
1. Das Urteil ist nicht verfahrensfehlerhaft zustande gekommen.
a) Soweit eine Verletzung von § 249 Abs. 2 StPO gerügt wird, ist dies unzulässig, da keine vorherige Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO erfolgte.
Für eine Beanstandung der Anordnung des Selbstleseverfahrens ist ein vorheriger Widerspruch nach § 249 Abs. 2 S. 2 StPO erforderlich. Soweit die Art der Durchführung des Selbstleseverfahrens betroffen ist, hat grundsätzlich eine Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO zu erfolgen (BGH NStZ 2011, 300 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl. 2017, § 249 Rn. 32). Zur Art der Durchführung des Selbstleseverfahrens gehört auch die faktische Nichtdurchführung des Verfahrens nach vorheriger Anordnung. Das Gericht muss den Prozessbeteiligten Gelegenheit zur Selbstlesung geben (Meyer-Goßner/Schmitt aaO., § 249 Rn. 23). Damit wird diese Gelegenheit Teil des durchzuführenden Verfahrens. Wird eine solche Gelegenheit nicht gewährt, so ist die Art der Durchführung des Verfahrens betroffen.
b) Zwar wurde vorliegend keine Gelegenheit zur Selbstlesung gewährt, aber dies wurde auch nicht nach § 238 Abs. 2 StPO beanstandet, weshalb die Revision nicht hierauf gestützt werden kann.
2. Es liegt auch kein Darstellungsmangel vor. Die nach § 267 Abs. 3 S.1 StPO zu bezeichnenden Umstände wurden dargelegt.
a) Die Prüfung des Revisionsgerichts auf die Sachrüge beschränkt sich nicht darauf, ob das Recht auf den festgestellten Sachverhalt richtig angewendet worden ist. Vielmehr prüft es auch, ob die Urteilsfeststellungen überhaupt eine tragfähige Grundlage für diese Prüfung bieten. Dieser Maßstab ist ebenfalls zu Grunde zu legen, soweit Rügen die tatrichterliche Beweiswürdigung betreffen. Demnach hat eine Gesamtwürdigung aller in der Hauptverhandlung festgestellten Tatsachen zu erfolgen, wobei dies nicht bedeutet, dass in den Urteilsgründen stets in allen Einzelheiten darzulegen ist, auf welche Weise der Richter zu bestimmten Feststellungen gelangt ist (Meyer-Goßner/Schmitt aaO., § 267 Rn. 12).
Grundlage dieser Prüfung ist nur die Urteilsurkunde. Der Akteninhalt ist nicht zu berücksichtigen (Meyer-Goßner/Schmitt aaO., § 337 Rn. 22 f.).
b) Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist ein Darstellungsmangel nicht ersichtlich. Insbesondere kann nicht mit Erfolg gerügt werden, das Urteil enthalte einen Widerspruch, weil das Gericht Teile der Einlassung der Angeklagten als Schutzbehauptung bewerte. Eine solche Bewertung ist das Resultat einer aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung des Gerichts. Dies ist nicht vom Revisionsgericht zu überprüfen. Zudem folgt hieraus auch kein Widerspruch, denn auch die von der Angeklagten zitierten Passagen des Urteils (UA S. 3 f.) zeigen eine in sich schlüssige Begründung zu einer Schutzbehauptung durch das Gericht auf. So wird dargestellt, dass die Angeklagte wusste, dass ihr die übertragenen Vermögenswerte zuzurechnen sind und sie zudem fähig war, dies auch intellektuell bei Antragsstellung festzustellen. Diese Darstellung berücksichtigt sowohl die innere als auch die äußere Tat...