Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulassung von verspätetem Vorbringen durch das Schiedsgericht
Leitsatz (amtlich)
In Bezug auf einen Schiedsspruch kann - vorbehaltlich einer abweichenden Parteivereinbarung - im Vollstreckbarerklärung- und Aufhebungsverfahren nicht überprüft werden, ob das Schiedsgericht verspätetes Vorbringen zu Unrecht zugelassen hat.
Normenkette
BGB §§ 276, 826; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1; GKG § 39 Abs. 2; SGB V §§ 35a, 130 b; ZPO §§ 1042, 1051 Abs. 3 S. 1, §§ 1054, 1059 Abs. 2, §§ 1060, 1062 Abs. 1 Nr. 4, § 1064 Abs. 1
Nachgehend
Tenor
1. Der von dem Schiedsgericht, bestehend aus den Schiedsrichtern A, B und C (Vorsitzender), am 16. Oktober 2020 erlassene Schiedsspruch, Az. ICC Case No. 23526, mit folgendem Inhalt
1) Der Lizenzvertrag (Licence Agreement) und der Herstellungsvertrag (Manufacture Agreement) zwischen der Schiedsklägerin und der Schiedsbeklagten sind wirksam und ihre angeblichen Kündigungen durch die Schiedsbeklagte haben keine Rechtswirkung entfaltet.
2) Die Schiedsbeklagte wird hiermit verurteilt, an die Schiedsklägerin EUR 142.221.201 zuzüglich auf Jahresbasis zu zahlender Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz vom 14. August 2019 bis zum vollständigen Eingang dieses Betrags bei der Schiedsklägerin zu bezahlen.
3) Die Schiedsbeklagte wird hiermit verurteilt, an die Schiedsklägerin zum Datum dieses Schiedsspruchs EUR 1.353.976,63 zu bezahlen.
4) Alle anderen Anträge werden, soweit sie nicht gegenstandslos sind, abgewiesen.
wird für vollstreckbar erklärt.
2. Der Antrag der Antragsgegnerin auf Aufhebung des in Ziff. 1 genannten Schiedsspruchs wird zurückgewiesen.
3. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
4. Dieser Beschluss ist vorläufig vollstreckbar.
5. Der Streitwert wird auf EUR 30.000.000,00 festgesetzt.
Gründe
I. Die Parteien streiten mit Vollstreckbarerklärungs- und Aufhebungsantrag um die Rechtmäßigkeit eines Schiedsspruchs, der in einem in Frankfurt am Main geführten Schiedsverfahren am 16. Oktober 2020 erlassen wurde.
Die Antragstellerin ist eine pharmazeutische Gesellschaft mit Sitz in Stadt1 (Österreich), die auf Arzneimittel für seltene Krankheiten spezialisiert ist, die nur einen kleinen Teil der Bevölkerung betreffen (sogenannte "orphan diseases"). Die Antragstellerin erforscht, entwickelt, produziert und vertreibt Arzneimittel für mehrere therapeutische Bereiche.
Die Antragsgegnerin ist eine Biotechnologie-Gesellschaft mit Sitz in Stadt2 (Taiwan), die 2003 in den USA gegründet wurde. Sie ist die Inhaberin aller Rechte in Bezug auf P1101 (PEG-P-IFNa-2b, auch "Ropeginterferon" genannt).
P1101 ist ein Alpha-Interferon der dritten Generation, das für eine Vielzahl von lndikationen eingesetzt werden kann. Die Zusammenarbeit der Parteien betraf die kommerzielle Nutzung von P1101 unter dem Markennamen Besremi, insbesondere zur Behandlung seltener Blutkrebsarten wie Polycythemia vera, idiopathische Myelofibrose und essentielle Thrombozythämie.
Im Jahr 2008 war die Antragsgegnerin auf der Suche nach einem Partner, an den sie das Produkt P1101 zur klinischen Entwicklung auslizenzieren oder mit dem sie es gemeinsam entwickeln könnte. Im Oktober 2008 bekundete die Antragstellerin ihr Interesse an einer Zusammenarbeit mit der Antragsgegnerin.
Am 1. September 2009 schlossen die Parteien eine Lizenzvereinbarung und eine Herstellungsvereinbarung ab.
Die wesentlichen Regelungen des Lizenzvertrags lauten wie folgt: Die Antragsgegnerin erteilte der Antragstellerin eine Lizenz zur Nutzung von P1101 in klinischen Studien und zur Vermarktung im Lizenzgebiet (= Europa). Im Gegenzug erklärte sich die Antragstellerin u. a. bereit, alle Kosten der in Europa für eine Zulassung erforderlichen klinischen Studien zu übernehmen und diese auf eigenes Risiko vorzunehmen. Im Lizenzvertrag ist klargestellt, dass alle Rechte an P1101 und der klinischen Entwicklung der Antragsgegnerin zustehen.
Die Rechte der Antragsgegnerin an den klinischen Studien wurden u. a. in Klausel 8 des Lizenzvertrags geregelt. Nach Klausel 8.1 hatten beide Parteien die Pflicht, alle Aufzeichnungen ("records") in Bezug auf die Entwicklung von P1101 aufzubewahren. Die Definition des Begriffs "records" umfasste alle Daten, Ergebnisse, Programme, Berechnungen, Dokumente und sonstige Unterlagen, die im Zusammenhang mit den klinischen Studien in Europa anfielen. Nach Klausel 8.4 hatte die Antragsgegnerin das Recht, die gesamten Aufzeichnungen ("records") von der Antragstellerin heraus zu verlangen. Ausdrücklich klargestellt wurde, dass es im alleinigen Ermessen der Antragsgegnerin lag zu entscheiden, ob und wie sie diese "records" für eine Zulassung außerhalb Europas nutzen möchte.
In Bezug auf die gemeinsame Entwicklung teilten sich die Parteien die Aufgaben auf. Für die klinische Entwicklung, das heißt die klinischen Studien, war die Antragstellerin zuständig. Für die Entwicklung eines Herstellungsprozesses und des entsprechenden Kontrol...