Normenkette

BGB §§ 1671, 1687

 

Verfahrensgang

AG Gießen (Aktenzeichen 25 F 1751/03)

 

Gründe

Die gem. §§ 629a I, 621e ZPO eingelegte Berufungsbeschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgemäß eingelegt und begründet.

In der Sache hat das Rechtsmittel den aus dem Tenor ersichtlichen Erfolg.

Der Senat ist entgegen der Auffassung des Familiengerichts aufgrund der weiteren Ermittlungen davon überzeugt, dass die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge und die Übertragung auf die Antragstellerin dem Wohl des Kindes am besten entspricht (§ 1671 I, II Nr. 2 BGB).

Das nach Art. 6 II S. 1 GG verfassungsrechtlich geschützte Elternrecht setzt angesichts der schweren Belastungen und Herausforderungen, denen Kinder durch den Umstand der Ehescheidung und dem damit entstehenden Leben zwischen zwei elterlichen Welten verbunden mit auseinander strebenden Werte- und Anschauungssystemen ausgesetzt sind, für eine gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern voraus und erfordert ein Mindestmaß an Übereinstimmung zwischen ihnen, die sich am Kindeswohl auszurichten hat. Für den Fall, dass die Voraussetzungen für eine gemeinsame Wahrnehmung der Sorge fehlen, bedarf das Elternrecht der gesetzlichen Ausgestaltung (vgl. BVerfGE 92, 158, BVerfG FamRZ 2003, 285). Dem dient § 1671 I in Verbindung mit II Nr. 2 BGB, der bestimmt, dass einem Elternteil auf Antrag die elterliche Sorge oder ein Teil der elterlichen Sorge allein zu übertragen ist, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den antragstellenden Elternteil dem Wohle des Kindes am besten entspricht.

Nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung bedeutet die gesetzliche Regelung nicht, dass dem Fortbestand der gemeinsamen Sorge ein Vorrang vor der Alleinsorge eines Elternteils eingeräumt wird. Ebenso wenig besteht eine gesetzliche Vermutung dafür, dass die gemeinsame elterliche Sorge im Zweifel die beste Form der Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung ist. Für die allgemein gehaltene Aussage, dass eine gemeinsame elterliche Sorge nach der Trennung der Eltern dem Kindeswohl prinzipiell förderlicher sei als die Alleinsorge eines Elternteils, besteht in der kinderpsychologischen und familiensoziologischen Forschung auch weiterhin keine empirisch gesicherte Grundlage (vgl. Staudinger/Coester, BGB, 2004, § 1671 Rz. 112 m.w.N. zum Forschungsstand; BGH FamRZ 2008, 592). Einer solchen Regelung stünde bereits entgegen, dass sich elterliche Gemeinsamkeit in der Realität nicht verordnen lässt (vgl. BGH MDR 2005, 1112; 2000, 31, FamRZ 1999, 1646 f.). Für das Wohl des bereits durch die Scheidung belasteten Kindes ist die Kooperationsbereitschaft der Eltern in Bezug auf seine Person von wesentlicher Bedeutung (BGH FamRZ 2008, 251, 254 m.w.N.).

Wenn sich die Eltern bei Fortbestehen der gemeinsamen elterlichen Sorge fortwährend beschimpfen und verunglimpfen und über die das Kind betreffenden Angelegenheiten keine Gemeinsamkeiten herbeiführen und keine angemessenen Gespräche ohne Anschreien führen können, sondern sich in wiederholte auch gerichtliche Streitigkeiten verwickeln, kann dies zu Belastungen führen, die mit dem Wohle des Kindes nicht vereinbar sind. In solchen Fällen, in denen die gemeinsame Sorge praktisch nicht "funktioniert" und es den Eltern nicht gelingt, zu Entscheidungen im Interesse des Kindes zu gelangen, kann die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl zuwiderlaufen und seine Beziehungsfähigkeit und Entwicklung beeinträchtigen. Ist das Gericht davon überzeugt, dass die Eltern auch in absehbarer Zukunft keine gemeinsame Kommunikationsbasis für das Kind betreffende Fragen finden können, darf es davon ausgehen, dass eine Beibehaltung der gemeinsamen Sorge mehr Nachteile als Vorteile für das Kind mit sich bringen würde. Hierbei steht bereits das Risiko, dass das Kind durch die gemeinsame Sorge verstärkt dem fortdauernden Konflikt der Eltern ausgesetzt wird, regelmäßig der Feststellung einer Kindeswohldienlichkeit der gemeinsamen Sorge entgegen. In solchen Fällen ist der Alleinsorge ggü. dem Fortbestand der gemeinsamen Sorge der Vorzug zu geben (BGH, a.a.O.).

Auf die Frage, wer diese für den Senat anlässlich der Anhörung sichtbar gewordene Belastungssituation des Kindes verursacht, respektive verschuldet haben könnte, kommt es entgegen der Ansicht des Antragsgegners aus der Sicht des Kindeswohles nicht maßgeblich an. Die Entscheidung für die Alleinsorge eines Elternteils hat weder Bestrafungs- noch Belohnungsfunktion für die Eltern. Für das Wohl des Kindes kommt es nämlich nicht entscheidend darauf an, welcher Elternteil in der Vergangenheit in der einen oder anderen Weise handelte, um den aktuellen Lebenszustand herbeizuführen. Für das Kind ist vielmehr entscheidend, dass für seine weitere Entwicklung in der Zukunft sichergestellt wird, dass die aus der Trennung der Eltern und der nicht funktionierenden gemeinsamen Sorge entstehenden nachteiligen Folgen und insbesondere der dauernd...

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