Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesteigerte Unterhaltspflicht gegenüber Minderjährigen. Grenzen der Erwerbschancen einer ungelernten Arbeitskraft
Leitsatz (amtlich)
Auch bei gesteigerter Unterhaltsverpflichtung gegenüber einem Minderjährigen ist bei der Leistungsfähigkeit im Einzelfall zu prüfen, ob der Unterhaltsschuldner als ungelernte Arbeitskraft auf dem heutigen Arbeitsmarkt überhaupt eine realistische Chance auf eine Vollzeitbeschäftigung mit einem Verdienst von bereinigt netto mehr als 890 EUR hat. Die Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland lassen es zweifelhaft erscheinen, ob ein Unterhaltspflichtiger bei genügender Anstrengung Unterhaltspflichten überhaupt noch erfüllen kann, wenn er keine qualifizierte Ausbildung hat.
Normenkette
BGB § 1603; ZPO § 114
Verfahrensgang
AG Offenbach (Urteil vom 18.05.2006; Aktenzeichen 311 F 261/06 UK) |
Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Berufung gegen das am 18.5.2006 verkündete Urteil des AG - FamG - Offenbach am Main wird abgewiesen.
Gründe
Das AG hat die Klage auf Kindesunterhalt (199 EUR ab 1.9.2005) mit der Begründung abgewiesen, eine fiktive Zurechnung von Arbeitseinkünften führe nicht zu einer unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit des am ... 1970 geborenen Beklagten. Dem Unterhaltsanspruch der Klägerin gegenüber könne er zwar nicht einwenden, nach Ablegung des Abiturs im Januar 2006 ein Studium der Neurobiologie absolvieren zu dürfen. Letztlich könne all dies jedoch dahinstehen, weil er als ungelernte Kraft auf dem Arbeitsmarkt nur 900 EUR verdienen könne und - nach Abzug von Werbungskosten - Unterhalt des Selbstbehalts von 890 EUR leistungsunfähig sei. Im Übrigen wird auf die Begründung des Urteils des AG - FamG - Offenbach am Main Bezug genommen.
Die Klägerin ist der Auffassung, der Beklagte könne auch als ungelernte Kraft einen Stundenlohn 10 EUR und damit einen Monatslohn von 1.720 EUR erzielen. Zudem sei er darüber hinaus verpflichtet, eine Nebentätigkeit auszuüben. Damit sei er für den verlangten Mindestunterhalt in jedem Fall leistungsfähig. Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.
Der Klägerin kann keine Prozesskostenhilfe für die Berufung bewilligt werden, weil der beabsichtigten Berufung die Erfolgsaussicht fehlt (§ 114 ZPO): Der Senat teilt die Auffassung des AG.
Nach Ziff. 21.2 der Unterhaltsgrundsätze des OLG Frankfurt (Stand: 1.7.2005) gilt für Eltern gegenüber minderjährigen und diesen nach § 1603 Abs. 2 Satz 2 BGB gleichgestellten Kindern im allgemeinen der notwendige Selbstbehalt als unterste Grenze der Inanspruchnahme. Er beträgt 890 EUR. Davon entfallen 510 EUR auf den allgemeinen Lebensbedarf und 380 EUR auf den Wohnbedarf (290 EUR Kaltmiete, 90 EUR Nebenkosten und Heizung). Um den von der Klägerin verlangten Unterhalt von monatlich 199 EUR erbringen zu können, wäre demnach unter Berücksichtigung von fiktiven Werbungskosten (5 % Werbungskostenpauschale) ein Nettoeinkommen von 1.143,45 EUR erforderlich.
Notwendiger Selbstbehalt890 EUR verlangter Unterhalt 199 EUR
+ 5 % pauschale Werbungskosten 54,45 EUR
notwendiges Nettoeinkommen 1.143,45 EUR
Um ein solches Nettoeinkommen im Jahr 2006 zu erzielen, wäre ein Bruttoeinkommen von 1.688,92 EUR erforderlich:
Steuerjahr 2006
Bruttolohn 1.688,92 EUR
Lohnsteuer-Klasse 1
Kinderfreibeträge 0,5
Lohnsteuer: -177,66 EUR
Solidaritätszuschlag -6,38 EUR
Rentenversicherung (19,5 %) -164,67 EUR
Arbeitslosenversicherung (6,5 %) - 54,89 EUR
Krankenversicherung AN-Anteil (13,3 %/2 + 0,9 %) -127,51 EUR
Pflegeversicherung (AN-Anteil 0,85 %) -14,36 EUR
Nettolohn: 1.143,45 EUR
Der Beklagte müsste daher, als ungelernter Arbeiter, einen Stundenlohn von 10 EUR bei ca. 170 Arbeitsstunden im Monat erzielen. Dies ist ihm aber bei den gegebenen Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt nicht möglich.
Nach den Erkenntnissen des Senats in einer Vielzahl von Unterhaltsverfahren haben ungelernte Arbeitskräfte derzeit kaum eine Chance auf Festeinstellung zu einer Vollzeittätigkeit. Typischerweise werden ungelernte Kräfte in Teilzeitarbeit und zeitlich befristet eingestellt, wozu das Arbeitsrecht heute vielfältige Möglichkeiten bietet.
Im unteren Lohnbereich gelernter Arbeitskräfte werden heute Mindestlöhne durch Tarifvertrag und Rechtsverordnung garantiert, die im Bereich eines Stundenlohns von 10 EUR liegen. Mit der Dritten Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen im Maler- und Lackiererhandwerk vom 31.8.2005 (Bundesanzeiger Nr. 178 vom 20.9.2005) beträgt der Mindestlohn für Fachkräfte im Bundesgebiet ohne die Beitrittsländer 10,73 EUR und für ungelernte Kräfte 7,85 EUR. Nach dem Lohn und Gehaltstarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Hessen (HN LTV-GTV Bew 1.8.2003 - 31.7.2004) beträgt der Mindestlohn für Sicherheitsmitarbeiter im Revierwachdienst 7 EUR. Dieser Mindestlohn gilt ausdrücklich nicht für Aushilfskräfte gem. § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV. Im Baugewerbe beträgt der Mindestlohn für ungelernte Kräfte nach der 5. Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen im Baugewerb...