Entscheidungsstichwort (Thema)
Befunderhebungs- und Behandlungsfehler durch unterlassene Blutzuckerbestimmung und Nichtmitfahren des Notarztes im Rettungswagen
Verfahrensgang
LG Darmstadt (Urteil vom 22.02.2017; Aktenzeichen 19 O 160/11) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 22.02.2017, Az.: 19 O 160/11, abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 500.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 17.02.2012 sowie einen weiteren Betrag in Höhe von 8.582,28 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 17.02.2012 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle künftigen, noch nicht absehbaren immateriellen, sowie alle weiteren materiellen Schäden, die aus der Behandlung vom XX.XX.2008 entstanden sind oder noch entstehen werden und nicht mit dem zugesprochenen Schmerzensgeld abgegolten sind oder kraft Gesetzes auf Dritte übergegangen sind oder übergehen werden, zu ersetzen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtstreits erster und zweiter Instanz hat der Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Gegenstandswert für die Berufungsinstanz wird auf 700.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Klägerin nimmt den Beklagten als Träger des Notfallrettungsdienstes auf Zahlung von Schmerzensgeld und den Ausgleich vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Anspruch. Ferner begehrt sie die Feststellung der Eintrittspflicht des Beklagten für alle künftigen materiellen und nicht absehbaren immateriellen Schäden, die im Zusammenhang mit der aus ihrer Sicht fehlerhaften Behandlung stehen.
Die am XX.XX.2007 geborene Klägerin leidet seit ihrer Geburt an einer schweren Herzerkrankung, einem hypoplastischen Linksherzsyndrom mit Rechtsverlagerung, und einer rechtsseitigen Lungenhypoplasie.
Am Morgen des XX.XX.2008 war die Klägerin somnolent und leicht zyanotisch. Die alarmierten Rettungssanitäter, die im Auftrag der A GmbH für den Beklagten tätig waren, legten der Klägerin ein EKG an und maßen ihren Blutdruck. Kurze Zeit später erschien der im Notarztdienst des Beklagten eingesetzte Notarzt, B, der eine Verdachtsdiagnose (Krampfanfall) stellte und die Einlieferung der Klägerin in das Universitätsklinikum Stadt1 anordnete. Die Klägerin wurde sodann mit Sondersignal (Blaulicht) ohne Begleitung des Notarztes von den Rettungssanitätern nach Stadt1 transportiert. Die Blutzuckerwerte der Klägerin wurden weder anlässlich der Untersuchung durch den Notarzt noch während der Fahrt gemessen.
Im Universitätsklinikum Stadt1 wurde die Klägerin zunächst notfallmäßig medikamentös mit Diazepam und dann mit Phenobarbital behandelt. Die abgenommenen Laborwerte zeigten eine starke Unterzuckerung, welche durch Glukosegabe rasch therapiert werden konnte. Weitere Untersuchungen (MRT unter Intubation) erfolgten am gleichen Tag.
Im Verlauf der pädiatrischen Intensivbehandlung kam es bei der Klägerin zu Sauerstoffsättigungsabfällen, weshalb die Klägerin am XX.XX.2018 von Stadt1 aus zu einer Herzkatheteruntersuchung in die Kinderklinik Stadt2 verlegt werden sollte. Dort war sie bereits in der Vergangenheit behandelt worden. Zur Vorbereitung des Transports entschloss man sich zur Narkose und Intubation der Klägerin. Bei dieser Narkoseeinleitung trat bei der Klägerin ein Herz-Kreislaufstillstand ein, der zu ca. 30-minütigen Reanimationsmaßnahmen führte. Die Reanimation der Klägerin gelang, hatte indes hypoxische Hirnschäden zur Folge.
Am XX.XX.2008 wurde die Klägerin in die Klinik nach Stadt2 gebracht, wo ihr am XX.XX.2009 ein Herzschrittmacher implantiert wurde. In der Klinik in Stadt2 wurde die Klägerin am XX.XX.2009 erneut reanimationsbedürftig, mit der Folge weiterer hypoxischer Hirnschädigungen.
Die Klägerin leidet infolge der eingetretenen schweren hypoxischen Hirnschäden an einer Tetraspastik, Sprachverlust und anhaltenden Bewusstseinsstörungen. Die Kontrolle über Kopf und Rumpf ist kaum noch vorhanden, weswegen die Klägerin auch nicht sitzen kann. Sie muss über eine Magensonde ernährt werden. Die Klägerin ist insgesamt pflegebedürftig und auf ständige Hilfe angewiesen. Eine Verbesserung dieses Zustandes ist nicht zu erwarten.
Zur Begründung ihrer Klage hat die Klägerin sich darauf gestützt, dass sowohl der Notarzt als auch die Rettungssanitäter mangels hinreichender Diagnosemaßnahmendie Ursache des Krampfanfalles (Unterzuckerung)nicht erkannt und die Klägerin nicht den Regeln ärztlicher Heilkunst entsprechend behandelt hätten. Die aufgrund der fehlerhaften Diagnose zeitlich verzögerte Behandl...