Entscheidungsstichwort (Thema)

Haftungsverteilung bei Kollision mit Traktor auf Landstraße; Grenzen des Sichtfahrgebots; Berücksichtigung einer Vorschusszahlung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Gebot des Fahrens auf Sicht gemäß § 3 StVO erfordert es nicht, auf einer Landstraße so langsam zu fahren, dass jederzeit vor querenden landwirtschaftlichen Fahrzeugen angehalten werden kann.

2. Kann der Fahrer eines Traktors mit Heuwender beim Queren einer Landstraße aufgrund einer 100 Meter entfernten Kurve herannahende Fahrzeuge nicht wahrnehmen, stellt das Einfahren auch ohne Einweiser keinen Verstoß gegen § 8 StVO dar. Der Fahrer muss allerdings, sobald ein bevorrechtigtes Fahrzeug sichtbar wird. gemäß § 1 Abs. 2 StVO seine Fahrweise darauf einstellen und notfalls sofort anhalten, wenn er anders einen Unfall nicht vermeiden kann.

3. Hat der Haftpflichtversicherer vorab einen Betrag zur freien Verrechnung gezahlt und auch später keine Leistungsbestimmung vorgenommen, kann der Geschädigte den Betrag gemäß §§ 366 f. BGB verrechnen.

 

Normenkette

StVG §§ 7, 17; StVO § 8; BGB § 366

 

Verfahrensgang

LG Darmstadt (Urteil vom 12.03.2014; Aktenzeichen 28 O 363/12)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des LG Darmstadt vom 12.3.2014 abgeändert.

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin insgesamt 7.040,57 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 24.10.2012 abzüglich am 29.10.2012 gezahlter 3.500,00 EUR zu zahlen.

Die weiter gehende Klage wird abgewiesen.

Die Berufungen werden im Übrigen zurückgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin 60 %, die Beklagten 40 %.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Gegenstandswert für die Berufungsinstanz wird auf 8.955,71 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Klägerin verlangt von den Beklagten Schadensersatz aus abgetretenem Recht nach einem Verkehrsunfall vom ... September 2012. An diesem Tag befuhr die Tochter der Klägerin die Landstraße L 1 von Stadt1/Stadt2 kommend in Richtung Stadt3. Etwa 500 Meter vor dem Kreuzungsbereich der L 1 mit der K 2 wollte der Beklagte zu 1) mit der bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten landwirtschaftlichen Zugmaschine mit Heuwender von einem Feldweg zu einem weiteren Feldweg die L 1 in nördlicher Richtung überqueren. Bevor der Beklagte mit seinem Fahrzeug vollständig die andere Seite erreicht hatte, kam es zu der Kollision mit dem Fahrzeug der Klägerin, an dem wirtschaftlicher Totalschaden entstand. Die Beklagte zu 2) zahlte ohne Anerkennung einer Rechtspflicht und unter Vorbehalt freier Verrechnung an die Klägerin einen Betrag von 3.500,00 EUR als Vorschuss unter dem 29.10.2012. Das beschädigte Fahrzeug war vom Ehemann der Klägerin gekauft worden, der mit Vereinbarung vom 17.1.2013 ihm zustehende Schadensersatzansprüche an die Klägerin abgetreten hat. Der Ehemann der Klägerin kaufte unter dem 22. No. vember 2012 ein Ersatzfahrzeug, das am 4.12.2012 ausgeliefert und ebenfalls wie das beschädigte Fahrzeug auf die Klägerin zugelassen wurde.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes erster Instanz wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen. Dies gilt auch hinsichtlich der dort gestellten Anträge.

Das LG ist davon ausgegangen, dass die Klägerin Halterin des Fahrzeugs war, so dass sich im Verhältnis der Parteien die Haftungsverteilung nach § 17 StVG richte. Beide Seiten hätten ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG nicht nachweisen können. Das LG hat sich auf das Gutachten des Sachverständigen A gestützt, der ausgeführt hat, dass der Beklagte zu 1) bei Aus. fahren aus dem Feldweg das Fahrzeug der Klägerin nicht habe sehen können. Das LG hat, obwohl es davon ausgegangen ist, dass die Fahrerin des klägeri. schen Fahrzeugs den Unfall auch durch eine Vollbremsung nicht hätte vermeiden können, eine Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zu Lasten der Klägerin angenom. men. Es hat angenommen, dass die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs entweder gegen das Sichtfahrgebot verstoßen oder unzureichend reagiert habe. Eine Vorfahrtsverletzung des Beklagten zu 1) liege nicht vor, weil er das Fahrzeug der Klägerin nicht habe sehen können. Zwar sei er dennoch zu besonderer Sorgfalt verpflichtet gewesen, das habe aber nicht bedeutet, dass er gehalten gewesen sei, die Straße nur durch zentimeterweises Vorrollen mit sofortiger Anhaltemöglichkeit zu queren. Der Beklagte zu 1) habe sich darauf verlassen dürfen, dass Fahrzeuge auf der Landstraße das Sichtfahrgebot gemäß § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO einhalten und nur so schnell fahren würden, dass sie innerhalb der überschaubaren Strecke nach Erblicken des Beklagten zu 1) anhalten könnten. Auf Seiten der Klägerin liege ein Verstoß gegen das Sichtfahrgebot vor. Die Führerin habe das Gebot deshalb nicht beachtet, weil sie mit einer Geschwindigkeit von 90 km/h gefahren sei und deshalb nicht mehr rechtzeitig vor dem Fahrzeug des Beklagten zu 1) zum Stehen gekommen sei.

Hinsichtlich der Frage der Zahlung von 3.500,00 EUR ...

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