Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht (Streupflicht) durch Gemeinde

 

Normenkette

BGB §§ 823, 839

 

Verfahrensgang

LG Gießen (Aktenzeichen 3 O 107/99)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 13.7.2000 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des LG Gießen abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 25.812 DM (13.197,47 EUR) nebst 4 % Zinsen aus 812 DM (415,17 EUR) seit dem 19.8.1999 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis vom 18.12.1997 zu ersetzen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Wert der Beschwer beträgt für die Beklagte 30.812 DM (15.753,93 EUR) und für die Klägerin 169,90 DM (86,87 EUR).

 

Gründe

Die Berufung der Klägerin hat bis auf einen geringen Teil des geltend gemachten materiellen Schadens Erfolg. Die Klägerin kann von der Beklagten gem. den §§ 847, 823 BGB Schmerzensgeld und Schadensersatz wegen der Folgen des Sturzes verlangen, den sie am 18.12.1997 erlitt.

Aufgrund der vor dem LG durchgeführten Beweisaufnahme steht fest, dass sich der Sturz der Klägerin am 18.12.1997 auf dem Gehweg vor dem unbebauten Grundstück der Beklagten in der K.Straße ereignete. Zu Recht geht das angefochtene Urteil von diesem Sachverhalt aus. Die Zeugin K. hat ausgesagt, dass die Klägerin „an dem Rasenstück” – also vor dem unbebauten Grundstück der Beklagten – gefallen sei. Damit im Einklang steht die Aussage der Zeugin M., wonach die Klägerin „in Höhe der Laterne” gefallen sei und noch versucht habe, sich an der „Laterne” festzuhalten. Ausweislich der Lichtbilder befindet sich an der von den Zeuginnen beschriebenen Unfallstelle (auch die Zeugin K. hat davon berichtet, die Klägerin habe sich noch am „Laternenpfahl” festhalten wollen) keine Laterne, sondern ein Mast mit einem Straßenschild, den die Zeuginnen offenbar irrtümlich als Laternenpfahl bezeichnet haben. Daraus ergibt sich, dass die Stelle, an der die Klägerin ausglitt und stürzte, der Gehweg vor dem Grundstück der Beklagten war.

Unstreitig war es nach nächtlichem Eisregen auf allen Straßen und Wegen im Gebiet der beklagten Gemeinde zu starker Glatteisbildung gekommen. Unstreitig war der Gehweg vor dem genannten Grundstück der Beklagten im Unfallzeitpunkt zwischen 9.00 Uhr und 9.15 Uhr nicht gestreut und demgemäß sehr glatt. Dieser Zustand beruht auf einer schuldhaften Verletzung der Streupflicht.

Die winterliche Räum- und Streupflicht auf den öffentlichen Straßen ist in Hessen nach § 10 Abs. 4 Hessisches Straßengesetz als Amtspflicht ausgestaltet (BGH, Urt. v. 14.10.1993 – 1 U 55/92; Urt. v. 15.1.1998 – III ZR 124/97, MDR 1998, 402). Die ihr danach als Amtspflicht obliegende Streupflicht hat die Beklagte hinsichtlich der Gehwege zulässigerweise (§ 10 Abs. 5 Hessisches Straßengesetz) gem. Satzung vom 22.9.1977 den Anliegern auferlegt. Weil die Beklagte hier nur als Eigentümerin eines Anliegergrundstückes von der übertragenen Streupflicht betroffen ist, wird sie insoweit nicht als Hoheitsträgerin tätig. Demgemäß haftet sie für eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht nicht nach Amtshaftungsgrundsätzen, sondern nach allgemeinen deliktrechtlichen Grundsätzen gem. § 823 BGB (BGH v. 5.12.1991 – III ZR 31/90, MDR 1992, 790 = VersR 1992, 444 [445]). Die aus der „polizeilichen” Reinigung fließende Räum- und Streupflicht, soweit sie auch der Verkehrssicherung dient, ist ihrem sachlichen Gehalt und Umfang nach von der aus der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht abgeleiteten Pflicht zur Sorge für die Sicherheit im Straßenverkehr nicht verschieden. Vielmehr decken sich hinsichtlich der Verkehrssicherung beide Pflichtenkreise inhaltlich (BGH v. 21.11.1996 – III ZR 28/96, VersR 1997, 311 [312]; v. 6.7.1990 – BLw 8/88, BGHZ 112, 74 [79] = MDR 1990, 1113). Danach gelten für die Streupflicht folgende Grundsätze: Inhalt und Umfang der winterlichen Räum- und Streupflicht auf den öffentlichen Straßen unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherung richten sich nach den Umständen des Einzelfalles. Art und Wichtigkeit des Verkehrsweges sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie seine Gefährlichkeit und die Stärke des zu erwartenden Verkehrs. Die Räum- und Streupflicht besteht also nicht uneingeschränkt. Sie steht vielmehr unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auch auf die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt. Grundsätzlich muss sich der Straßenverkehr im Winter auch den gegebenen Straßenverhältnissen anpassen. Der Sicherungspflichtige hat aber durch Schneeräumen und Bestreuen mit abstumpfenden Mitteln die Gefahren, die infolge winterlicher Glätte für den Verkehrsteilnehmer bei zweckgerechter Wegebenutzung und trotz Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt bestehen, im Rahmen und nach Maßgabe der vorgenannten Grundsätze zu beseitigen (st. Rspr. de...

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