Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsmissbräuchliche Leistungsablehnung bei nicht fristgerechter Invaliditätsfeststellung
Leitsatz (amtlich)
Stellt der Versicherer für die Invaliditätsbescheinigung einen vom Versicherten und vom Arzt auszufüllenden Vordruck zur Verfügung, der den Schluss zulässt, es werde keine in jeder Hinsicht abschließende Beurteilung erwartet, kann sich der Versicherer nicht auf das Versäumnis der Feststellungsfrist nach Ziff. 2.1.1.1 AUB berufen, wenn die fristgerecht eingereichten Angaben des Arztes erkennbar unvollständig sind.
Normenkette
AUB 2008 Ziff. 2.1.1.1; VVG § 178 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Gießen (Urteil vom 25.07.2016; Aktenzeichen 3 O 78/16) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom 25. Juli 2016 (Az. 3 O 78/16) abgeändert und der Beklagte verurteilt, an die Klägerin seit dem 01.03.2013 monatlich im Voraus bis zum Tod der versicherten Person, Herrn A, 500,- EUR Unfallrente sowie vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten i.H.v. 1.171,67 EUR nebst Zinsen hieraus i.H.v. 5-Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23.03.2016 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Dem Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 115% des auf Grund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit i.H.v. 115% des von ihr jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Klägerin begehrt von dem Beklagten Rentenzahlungen aus einer Unfallversicherung.
Die Klägerin unterhält bei dem Beklagten eine Unfallversicherung (Vers.-Nr. ...), bei der der Ehemann der Klägerin, Herr A, versicherte Person ist. Dem Vertrag liegen ausweislich des Nachtrags zum Versicherungsschein vom 07.07.2006 (Anlage K1, BI. 6f d.A.) die Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen 55plus (X) (nachfolgend: AUB 2005) zugrunde. Nach dem Versicherungsvertrag zahlt der Beklagte ab einem Invaliditätsgrad von 50% eine monatliche Unfallrente in Höhe von 500 EUR, sofern die in Ziff. 2.1.1.1 AUB 2005 festgelegten Voraussetzungen für die Invaliditätsleistung vorliegen. Hiernach ist erforderlich, dass die versicherte Person durch den Unfall auf Dauer in ihrer körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist (Invalidität), die Invalidität innerhalb eines Jahres eingetreten und innerhalb von fünfzehn Monaten nach dem Unfall von einem Arzt schriftlich festgestellt und von dem Versicherungsnehmer bei dem Beklagten geltend gemacht worden ist. Der Invaliditätsgrad des Körperteiles "Fuß" beträgt nach der vereinbarten Gliedertaxe 40% (Ziff. 2.1.2.2.1 AUB 2005). Für Schäden außerhalb der Gliedertaxe ist für die Invalidität maßgeblich, inwieweit nach medizinischen Gesichtspunkten die normale körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit insgesamt beeinträchtigt ist (2.1.2.2.2 AUB 2005).
Am XX.XX.2013 stürzte der Ehemann der Klägerin infolge von Glatteis, fiel auf den Hinterkopf und erlitt hierdurch eine Subarachnoidalblutung im Bereich des craniocervicalen Übergangs, wobei es bei der anschließenden intensivmedizinischen Versorgung nach einem Paravasat einer 10%-igen NaCl-Lösung zu einer Hautnekrose des Fußrückens rechts kam.
Der Unfall wurde dem Beklagten angezeigt. Mit Schreiben vom 11.04.2013 (Anlage B4, BI. 69f d.A.) und vom 15.06.2013 (Anlage B6, BI. 72 d.A.), jeweils versandt mit der Anlage "Wichtige Hinweise zum Versicherungsschutz Ihrer Unfallversicherung" (Anlage B5, BI. 71, 73 d.A.), wies der Beklagte die Klägerin auf die Leistungsvoraussetzungen nach Ziffer 2.1.1.1 AUB 2005 und die Folgen des Fristversäumnisses hinsichtlich der ärztlichen Feststellung der Invalidität hin. Am 24.03.2014 füllte der Ehemann der Klägerin das von dem Beklagten überlassene Formular zur Anmeldung von Invaliditätsleistungen aus. Hierbei machte er unter der in Fettdruck hervorgehobenen Überschrift "I. Angaben des Verletzten" auf die Frage zu Ziff. 2: "Welche Folgen des Unfalles werden nach Ihrer Meinung dauernd bestehen bleiben (kurze stichwortartige Angaben)?" folgende Angaben: "Sprachstörungen, Konzentrationsschwäche, Gangunsicherheit, Blasen- und Darm Störung, Schmerzen und Bewegungseinschränkung Fuß" (Anlage K2, Bl. 24 d.A.). Auf demselben Vordruck bestätigte die Gemeinschaftspraxis B/C, Stadt1, unter der in Fettdruck hervorgehobenen Überschrift "ll. Angaben des zuletzt behandelnden Arztes" auf die Frage (Ziff. 2), ob der Unfall Dauerfolgen hinterlassen werde, die im ersten Unfalljahr eingetreten seien, dies durch Ankreuzen der Antwortmöglichkeit "ja" und führte auf die weitere Frage "Wenn ja, worin könnten diese bestehen?" folgendes aus: "Sprachstörung, Koordinationsstörungen, Gangunsicherheit, Funktionseinschränkung Fuß". Blasen- oder darmbezogene Unfallfolgen sind dabei nicht genannt. Darüber hinaus gab der behandelnde Arzt auf die weitere Frage, ob ein unfallbedingter Invaliditätsgrad von mindestens 50% zu erwarten s...