Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Erstattungsfähigkeit alternativmedizinischer Behandlungen in der privaten Krankenversicherung
Leitsatz (amtlich)
§ 4 Abs. 6 Satz 2 Var. 2 MB/KK 2009 ist dahingehend auszulegen, dass sich der Versicherte bei einer inkurablen, lebenszerstörenden Erkrankung dann nicht auf eine Zweitlinientherapie verweisen lassen muss, wenn der neuartige wissenschaftlich fundierte Ansatz einer Alternativtherapie die nicht ganz entfernte Aussicht begründet, einen über die palliative Standardtherapie hinausreichenden Erfolg zu erbringen.
Normenkette
MB/KK 2009 § 1 Abs. 2, § 4 Abs. 6; VVG § 192 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Wiesbaden (Urteil vom 22.07.2020; Aktenzeichen 5 O 121/18) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Wiesbaden vom 22.07.2020 (Az. 5 O 121/18) wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das angefochtene Urteil und das Berufungsurteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 115% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 115% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Klägerin begehrt Kostenerstattung für medizinische Behandlungen ihres mittlerweile verstorbenen Ehemannes aus einem Vertrag über eine private Krankenversicherung i.H.v. 30.075,26 EUR.
Der Ehemann der Klägerin war versicherte Person eines privaten Krankenversicherungsvertrages, den die Klägerin bei der Beklagten unterhält. Diesem liegen die MB/KK 2009 sowie die "Tarifbedingungen der Krankenversicherung1" zugrunde.
§ 4 Abs. 6 MB/KK 2009 lautet:
Der Versicherer leistet im vertraglichen Umfang für Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden und Arzneimittel, die von der Schulmedizin überwiegend anerkannt sind. Er leistet darüber hinaus für Methoden und Arzneimittel, die sich in der Praxis als ebenso Erfolg versprechend bewährt haben oder die angewandt werden, weil keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stehen; der Versicherer kann jedoch seine Leistungen auf den Betrag herabsetzen, der bei der Anwendung vorhandener schulmedizinischer Methoden oder Arzneimittel angefallen wäre.
Bei dem Ehemann der Klägerin wurde im März 2017 ein lokal inoperables, primär duktales Ardenokarzinom des Pankreaskopfes diagnostiziert. Zunächst wurde dieses von März bis Juli 2017 mit Folfirinox im Rahmen einer Chemotherapie behandelt. Währenddessen kam es zur Neubildung einer Lebermetastase. Der Tumor wurde auch nach dem Ende der Chemotherapie als inoperabel eingestuft. Eine Behandlung mit einem PD-L1-Blocker war nicht erfolgversprechend. Der Ehemann der Klägerin wurde anschließend im immunologisch-onkologischen Zentrum Stadt1 mit "Kieler Impfstoff aus dendritischen Zellen", kombiniert mit onkolytischen Viren und Elektrohyperthermie, behandelt. Hierfür fielen Kosten an, welche die Beklagte als freiwillige Leistung zur Hälfte übernahm. Eine Erstattungsverpflichtung lehnte die Beklagte unter Berufung auf ein Privatgutachten von A (Anlage K3, Anlagenband) und C (Anlage K4, Anlagenband) ab. Die Klagesumme stellt den Restbetrag der nicht übernommenen Kosten dar.
Die Klägerin hat behauptet, die palliative Immuntherapie sei nach medizinischen Erkenntnissen wahrscheinlich geeignet gewesen, auf eine Verhinderung der Verschlimmerung der Erkrankung oder zumindest auf ihre Verlangsamung hinzuwirken. Eine Verlangsamung der Krankheit sei zumindest möglich. Dies ergebe sich aus einer 2017 publizierten Studie (Anlage K6, Anlagenband). Die Alternativtherapie ziele, anders als andere Palliativbehandlungen, auf eine signifikante Verlängerung der Lebenszeit.
Die Beklagte hat vorgetragen, die Wirkweise der dendritischen Zelltherapie/Virustherapie sei nicht hinreichend geklärt. Es gebe keine Belege zur Effektivität. Als schulmedizinische Behandlungsalternative i.S. einer Zweitlinientherapie habe eine palliative Chemotherapie zur Verfügung gestanden.
Wegen des erstinstanzlichen Sachvortrags der Parteien im Übrigen wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Das Landgericht hat die Beklagte nach Beweisaufnahme durch das angefochtene Urteil vom 22.07.2020, das der Beklagten am 28.07.2020 zugestellt worden ist, zur Zahlung von 30.075,26 EUR nebst Verzugszinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten verurteilt und zur Begründung ausgeführt, die Therapiekosten seien als palliativmedizinisch notwendig anzusehen. Dem stehe nicht entgegen, dass als lebensverlängernde Maßnahme auch eine schulmedizinisch anerkannte Chemotherapie in Betracht komme. Für die Wirksamkeit der Immuntherapie gebe es zwar keinen klaren Nachweis, der Studie aus dem Jahr 2017 ließen sich aber Hinweise auf verlängertes Gesamtüberleben entnehmen, zumindest sei ein positiver Effekt auf eine gleichzeitig stattfindende Chemotherapie abzuleiten. Dem gerichtlichen Gutachten l...