Leitsatz (amtlich)
1. Hat sich der Verletzte auf eigene Kosten oder im Wege von Prozesskostenhilfe eines anwaltlichen Beistands versichert, folgt aus diesem möglichen strukturellen Verteidigungsdefizit noch keine zwingende Beiordnungsnotwendigkeit.
2. Notwendig aber auch hinreichend ist eine an den Umständen des Einzelfalls orientierte gerichtliche Prüfung der Fähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung, in die namentlich die rechtlichen Befugnisse des Verletzten einerseits und das Verteidigungsverhalten des Angeklagten sowie die Komplexität von Anklagevorwurf und Beweislage andererseits einzustellen sind.
3. Hierbei kommt insbesondere einer differenzierenden Betrachtung der dem Verletzten im Einzelfall konkret zustehenden rechtlichen Befugnisse besondere Bedeutung zu; Bedacht ist etwa darauf zu nehmen, dass der nebenklagende Verletzte eine mit der Stellung der Anklagebehörde korrespondierende - die Beiordnung regelmäßig begründende - Verfahrensrolle innehat.
Normenkette
StPO § 140 Abs. 1 Nr. 9, Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
LG Hamburg (Entscheidung vom 20.10.2015) |
Tenor
Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 5, vom 20. Oktober 2015 wird kostenpflichtig verworfen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Hamburg hat den Angeklagten am 26. Februar 2015 wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen sowie zur Zahlung von € 3.000 an den Adhäsionskläger verurteilt. Zur Last gelegt werden ihm zwei "wuchtige Fausthiebe" und ein "Ellenbogenschlag" in das Gesicht eines Bekannten anlässlich einer verbalen Auseinandersetzung beim gemeinsamen Grillen, wodurch der Geschädigte unter anderem einen Nasenbeintrümmerbruch und eine Augapfelquetschung erlitt. Die hiergegen vom Angeklagten fristgerecht eingelegte Berufung hat das Landgericht am 9. November 2015 verworfen. Mit seiner vor Beginn der Berufungshauptverhandlung eingegangenen Beschwerde wendet sich der Angeklagte gegen die Ablehnung seines Antrag auf Bestellung eines Verteidigers.
II.
Die Beschwerde des Angeklagten gegen die Versagung der Verteidigerbestellung ist zulässig (§ 304 StPO); in der Sache bleibt ihr indes der Erfolg versagt.
1. Die Anordnungsvoraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO liegen nicht vor.
a) Nach dem hier allein in Betracht kommenden § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO ist ein Fall notwendiger Verteidigung nur dann gegeben, wenn dem Verletzten nach § 397a oder § 406g Abs. 3 und 4 StPO ein Rechtsanwalt gerichtlich beigeordnet worden ist. Daran fehlt es hier.
b) Auch eine entsprechende Anwendung dieser Regelung kommt nicht in Betracht. Es fehlt bereits an einer planwidrigen Regelungslücke. Vor dem Hintergrund des aus den Gesetzesmaterialien klar erkennbaren gesetzgeberischen Willens besteht kein Raum für ein weitergehendes Normverständnis (vgl. BT-Drucks. 17/6261, S. 11; ferner KG, Urteil vom 14. März 2012 - (4) 161 Ss 508/11 (41/12), StV 2012, 714; so auch vgl. LR/Lüderssen/Jahn, 26. Aufl., Nachtrag § 140 Rn. 36).
2. Auch nach den Voraussetzungen der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO war eine Verteidigerbeiordnung hier nicht geboten. Hierzu hat die Generalstaatsanwaltschaft ausgeführt:
"aa) Die Mitwirkung eines Verteidigers ist nicht wegen der Schwere der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Tat geboten...
Der Beschwerdeführer ist in erster Instanz lediglich zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt worden. Die Verhängung einer höheren Strafe gegen ihn ist nach § 331 Abs. 1 StPO ausgeschlossen. Eine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr ist daher nicht zu erwarten. Sonstige schwerwiegende unmittelbare oder mittelbare Nachteile ... die der Angeklagte infolge der Verurteilung zu gewärtigen hat, sind nicht ersichtlich. Dem nicht vorbestraften Angeklagten droht insbesondere kein Bewährungswiderruf ...
bb) Auch wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage erscheint die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht erforderlich.
(1) Die Rechtslage lässt keine Schwierigkeiten erkennen. Schwierig ist die Rechtslage, wenn bei Anwendung des materiellen oder des formellen Rechts auf den konkreten Sachverhalt bislang nicht ausgetragene Rechtsfragen entschieden werden müssen (OLG Stuttgart, Beschluss vom 8. November 2001 - 3 Ss 251/01, Rn. 6, juris). Hier geht es allein um geklärte Fragen des Körperverletzungsbestands, die eine Mitwirkung eines Verteidigers nicht erforderlich machen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist die Rechtslage ebenfalls einfach.
(2) ... Es ist nach dem Geständnis des Angeklagten weder ein länger andauerndes Verfahren mit zahlreichen Zeugenvernehmungen, noch die Erhebung schwieriger (Indizien-) Beweise zu erwarten. Es handelt sich um ein ausschließlich gegen den Angeklagten geführtes Verfahren ohne Mitangeklagte. Dem Angeklagten wird eine einzige Tat zur Last gelegt, der ein zeitlich und situativ eng umgrenzter Lebenssachverhalt zu Grunde liegt. Die amtsgerichtliche Hauptverhandlung hat an nur einem Tag stattgefunden und lediglich rund eindreiviertel Stunden angedauert. Das A...