Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufklärungspflicht in Bezug auf Erhöhung des Infektionsrisikos bei wiederholter Verabreichung kortisonhaltiger Spritzen
Leitsatz (amtlich)
1. Erweist sich eine im Wege eines Computerausdrucks nicht zeitnah erstellte ärztliche Dokumentation hinsichtlich der Zeitpunkte und der Anzahl der verabreichten Injektionen als unvollständig, so kann dies bei Streit über die Art und die Umstände der nicht dokumentierten Injektionen zu Lasten des Arztes gehen.
2. Die mit der wiederholten Verabreichung cortisonhaltiger Spritzen (hier: 6 Injektionen innerhalb eines Monats) verbundene deutliche Erhöhung des Infektionsrisikos ist aufklärungsbedürftig, wenn bezüglich der Dosierung des verwendeten Medikaments und den gewählten zeitlichen Abständen von den Vorgaben in der "Roten Liste" und den Hinweisen im Beipackzettel abgewichen wird, selbst wenn die Art und Weise der Spritzenbehandlung im klinischen Alltag als vertretbar angesehen wird.
3. Das Fehlen einer in der klinischen Praxis an sich zu fordernden schriftlichen Einverständniserklärung erhöht die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast des Arztes zum Zeitpunkt und Inhalt des Aufklärungsgespräches.
Verfahrensgang
LG Hamburg (Urteil vom 10.03.2000; Aktenzeichen 303 O 339/97) |
LG Hamburg (Urteil vom 10.12.1999; Aktenzeichen 303 O 339/97) |
Tenor
Auf die Berufungen der Klägerin werden unter Zurückweisung des weiter gehenden Rechtsmittel die Urteile des LG Hamburg, Zivilkammer 3, vom 10.12.1999 und vom 10.3.2000 abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld von 25.000 DM (= 12.782,30 Euro) nebst 4 % Zinsen seit dem 30.12.1997 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die materiellen Schäden zu ersetzen, die dieser aufgrund der im Februar 1993 im Universitätskrankenhaus H.-E. durchgeführten Spritzenbehandlung entstanden sind bzw. künftig entstehen werden.
Die Klage im Übrigen wird abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin 3/5 und die Beklagte 2/5. Die durch die Nebenintervention entstandenen Kosten tragen die Klägerin zu 3/5 und der Nebenintervenient zu 2/5.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Partei, gegen die vollstreckt wird, darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung i.H.v. 110 % des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die vollstreckende Partei bzw. der Nebenintervenient vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin macht gegen die Beklagte im Zusammenhang mit einer von Januar bis März 1993 zunächst ambulant und später stationär durchgeführten ärztlichen Behandlung Schadensersatzansprüche geltend, und zwar gestützt auf den Vorwurf fehlerhafter Behandlung und der Verletzung von Aufklärungspflichten.
Die am 27.3.1945 geborene Klägerin leidet seit über 30 Jahren an Wirbelsäulenbeschwerden. Nach Diagnose eines Bandscheibenschadens im Jahre 1987 kam es im November 1990 zu einer ersten Bandscheibenoperation im Universitätskrankenhaus H.-E. (im Folgenden UKE) im Bereich L 5/S1 links mit Rezessusstenose/Wirbelkörperverengung. Wegen anhaltender Beschwerden stellte sich die Klägerin am 5.2.1992 erneut im UKE vor. Röntgen- und Kernspinaufnahmen von diesem Tag sowie vom 18.2. und 19.3.1991 ergaben keine Anhaltspunkte für radikuläre Symptome. Allerdings wurde mittels einer Kernspinaufnahme festgestellt, dass Narbengewebe auf die Nervenwurzeln drückte. Im Mai/Juni 1991 begab sich die Klägerin in eine Reha-Behandlung in Bad ... . Darüber hinaus wurde eine schmerztherapeutische Behandlung u.a. im UKE durchgeführt. Den Vorschlag, ein Stimulationssystem im Rückenmark zu installieren, lehnte die Klägerin ab. Im Oktober 1992 kam es erneut zu einer Kontaktaufnahme zwischen dem UKE und der Klägerin, deren Umstände im Einzelnen zwischen den Parteien streitig sind. Anlässlich einer Vorstellung der Klägerin im UKE am 13.1.1993 wurden drei Röntgenaufnahmen angefertigt. Eine Dokumentation über diesen Behandlungstag liegt nicht vor. Im Gefolge dieses Termins kam es zu einer Vorstellung der Klägerin bei dem Nebenintervenienten, in der im Hinblick auf die bei der Klägerin bestehenden Beschwerden eine Spritzenbehandlung in Aussicht genommen wurde.
In der Zeit zwischen dem 20.1. und 23.2.1993 erhielt die Klägerin mehrere Spritzen in die kleinen Wirbelgelenke 4/5 links und L 5/S1 links. Am 20.1.1993 wurden unstreitig 15 ml Bupivacain in das kleine Wirbelgelenk L 5/S1 links ohne Beigabe eines cortisonhaltigen Medikaments infiltriert. Ob bereits am 25.1. und 29.1.1993 Spritzen verabreicht worden sind, wie die Klägerin behauptet, ist zwischen den Parteien streitig. Am 1.2.1993 erhielt die Klägerin unstreitig eine weitere Infiltration, diesmal 15 ml Bupivacain mit 4 mg Cortison-Kristallsuspension in das kleine Wirbelgelenk 4/5 links. Am 5.2.1993 wurden 15 ml Bupivacain plus 4 mg Forteco...