Entscheidungsstichwort (Thema)
Strafzumessung. bestimmender Strafzumessungsgesichtspunkt. Geldstrafe. Freiheitsstrafe. unzureichende Ahndung früherer Straftaten
Leitsatz (amtlich)
Die staatliche Mitverantwortung für Straftaten kann ein bestimmender Strafzumessungsgrund sein, wenn sie über eine bloß kausale Mitverursachung hinausgeht. In extremen Ausnahmefällen kann unter diesem Gesichtspunkt die Erörterung einer Strafmilderung geboten sein, wenn durch wiederholte Nichtahndung oder nicht nachvollziehbare milde Sanktionierung früherer vom Angeklagten begangener Straftaten bei diesem vor der Begehung der aktuell abzuurteilenden Tat der Eindruck entstehen konnte, dass seine Taten nicht nachhaltig verfolgt werden bzw. ihm nichts oder nichts Gravierendes passieren kann.
Normenkette
StGB §§ 47, 46; StPO § 267 Abs. 3 S. 1
Verfahrensgang
LG Essen (Aktenzeichen 66 Ns 37/22) |
Tenor
Die Revision wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Die Kosten des Rechtsmittels trägt der Angeklagte (§ 473 Abs. 1 StPO).
Gründe
Zusatz:
Näherer Erörterung bedarf nur Folgendes:
1.
Die Verhängung einer Freiheitsstrafe auch jenseits des gesetzlichen Mindestmaßes des § 38 Abs. 2 StGB (hier: vier Monate) bei Diebstahlstaten mit bagatellartigem Schaden (hier: 11 Euro), ist rechtlich zulässig. Die Schadenshöhe ist bei Diebstahlstaten zwar ein wesentlicher bestimmender Strafzumessungsgesichtspunkt. Ob aber eine das gesetzliche Mindestmaß überschreitende Freiheitsstrafe das Übermaßverbot verletzt, hängt von einer Gesamtschau aller strafzumessungsrelevanten Gesichtspunkte ab (vgl. nur: OLG Hamm, Urt. v. 21.10.2014 - III - 1 RVs 82/14 - juris m.w.N.). Vor dem Hintergrund der (allein) vom Berufungsgericht berücksichtigten letzten drei - weitgehend wegen einschlägiger Delikte verhängten -Vorstrafen, der Tatbegehung in laufender Bewährungszeit und der Tatbegehung nur drei Monate nach der letzten Verurteilung, ist das Übermaßverbot auch angesichts des geringen Schadens, des Geständnisses und der Tatumstände (quengelndes Kind) sowie des drohenden Bewährungswiderrufs mit der Verhängung der vollstreckbaren Freiheitsstrafe von vier Monaten noch nicht verletzt.
2.
Die Berufungsstrafkammer war auch (noch) nicht gehalten, eine Strafmilderung unter dem Gesichtspunkt eines unzureichenden konsequenten Einschreitens der zur Strafverfolgung berufenen Organe in früheren gegen den Angeklagten geführten Verfahren zu erörtern.
Die staatliche Mitverantwortung für Straftaten kann ein bestimmender Strafzumessungrund sein, wenn sie über eine bloße kausale Mitverursachung hinausgeht (BGH NStZ-RR 2009, 167). Im Einzelfall kann unter besonderen Umständen eine Strafmilderung dann geboten sein, wenn ein früheres Einschreiten der Strafverfolgungsbehörden unabweisbar geboten gewesen wäre, wobei allerdings grundsätzlich kein Anspruch des Angeklagten darauf besteht, dass die Strafverfolgungsbehörden rechtzeitig gegen ihn einschreiten (vgl. BGH, Beschl. v. 14.12.2010 - 1 StR 275/10 - juris). Der Senat hält diese Rechtsprechung, die sich auf einen Fall bezog, in dem die entsprechende (Finanz-)Behörde gegen ihr bekannte Steuervergehen in einer dem dortigen Angeklagten erkennbaren Weise zunächst nicht eingeschritten ist, für übertragbar auch auf den Fall, dass gegen einen Straftäter seitens der zur Strafverfolgung berufenen Organe trotz vielfacher wiederholter Begehung von Straftaten eine kaum spürbare Sanktion verhängt wird oder gar keine Sanktionierung seiner Taten erfolgt. Der hinter der geschilderten Rechtsprechung erkennbar stehende Gedanke, dass durch ein nicht frühzeitiges Einschreiten ein Anreiz zur Fortführung der Taten bzw. Anreiz zur Begehung neuer Taten geschaffen wird oder die Taten zumindest erleichtert werden, gilt auch hier. Wird bei einer wiederholten Begehung von Straftaten keine Sanktion (etwa bei einer auflagenlosen Einstellung nach Opportunitätsgrundsätzen) oder eine unverständlich milde Sanktion verhängt, kann bei dem Täter der Eindruck entstehen, dass seine Taten nicht nachhaltig verfolgt bzw. ihm nichts oder nichts Gravierendes passieren könne. Eine Strafmilderung unter diesem Gesichtspunkt ist freilich eine Ausnahme. Nicht jede zu milde Ahndung einer früheren Tat oder eine Verfahrenseinstellung nach Opportunitätsgrundsätzen gebietet eine entsprechende Erörterung im Rahmen der Strafzumessung (vgl. BGH a.a.O.).
Die Feststellungen zu den Vorstrafen des Angeklagten bzw. zu den ihn betreffenden Eintragungen im Bundeszentralregister im angefochtenen Urteil ergeben, dass er (möglicherweise) bereits im Juni 2015 und im Januar 2016 zu Geldstrafen wegen Leistungserschleichung und wegen Diebstahls verurteilt worden war. Diese Verurteilungen sollen im April 2016 in eine Jugendstrafe von sechs Monaten einbezogen worden sein, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und die im Oktober 2018 erlassen wurde. Im Oktober 2016 wurde sodann von der...