Leitsatz (amtlich)
Die Anwendung der sogenannten "Vollstreckungslösung" zur Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen kommt bei der Verhängung von Jugendarrest nicht in Betracht. Die Verfahrensverzögerung ist bei der Verhängung von Jugendarrest vielmehr als Gesichtspunkt bei der Zuchtmittelbemessung zu berücksichtigen.
Verfahrensgang
AG Bielefeld (Aktenzeichen 191 Ls 288/11) |
Tenor
Die Revision wird als unbegründet verworfen.
Jedoch wird der Schuldspruch in dem angefochtenen Urteil zur Klarstellung wie folgt neu gefasst:
Die Angeklagte ist des Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung in drei Fällen, des Betruges in weiteren sechs Fällen sowie des versuchten Betruges in einem Fall schuldig.
Es wird davon abgesehen, der Angeklagten die Kosten des Revisionsverfahrens aufzuerlegen; ihre eigenen Auslagen hat sie indes selbst zu tragen.
Gründe
Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - hat die Angeklagte wegen "gewerbsmäßigen Betruges in zehn Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit gewerbsmäßiger Urkundenfälschung, davon in einem Fall im Versuch gemeinschaftlich handelnd" zu einem Dauerarrest von zwei Wochen verurteilt. Mit ihrer (Sprung-)Revision rügt die Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Das Rechtsmittel ist unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.
2. Mit ihrer Verfahrensrüge beanstandet die Angeklagte zu Recht, dass das Ermittlungsverfahren gegen sie im Zeitraum vom 27. Januar 2010 bis zum 7. Februar 2011 nicht gefördert worden ist. Diese rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung führt indes zu keinem von der angefochtenen Entscheidung abweichenden Ergebnis.
a) Die Voraussetzungen, unter denen eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung geeignet sein mag, ein Verfahrenshindernis zu begründen, liegen nicht vor. Dies kommt allenfalls in extremen Ausnahmefällen in Betracht (Fischer, StGB, 58. Aufl. [2011], § 46 Rdnr. 130 m.w.N.). Einen solchen stellt der vorliegende Fall nicht dar.
b) Die Anwendung der sogenannten "Vollstreckungslösung" zur Kompensation der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung (vgl. Fischer, a.a.O., Rdnr. 131 ff) kommt in der vorliegenden Fallkonstellation, in der das Amtsgericht lediglich einen Jugendarrest in Form des Dauerarrestes (§ 16 Abs. 1 und 4 JGG) verhängt hat, von vornherein nicht in Betracht.
Die "Vollstreckungslösung" kann zwar grundsätzlich auch im Jugendstrafrecht Anwendung finden (vgl. Eisenberg, JGG, 15. Aufl. [2012], § 18 Rdnr. 15f m.w.N.). Diskutiert wird dies indes lediglich für den Bereich der Jugend strafe, wobei auch hier nur darüber weitgehend Einigkeit besteht, dass die "Vollstreckungslösung" bei einer auf § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG ("Schwere der Schuld") gestützten Verhängung einer Jugendstrafe Anwendung findet (vgl. die Nachweise bei Eisenberg, a.a.O.), während bereits die Frage, ob die "Vollstreckungslösung" auch bei einer auf § 17 Abs. 2 Alt. 1 JGG ("schädliche Neigungen") gestützten Jugendstrafe angewandt werden kann, nicht einheitlich beantwortet wird (bejahend: Eisenberg, a.a.O.; OLG Düsseldorf, NStZ 2011, 525; ablehnend: BGH, 3. Strafsenat, NStZ-RR 2007, 61; offen gelassen in: BGH, 5. Strafsenat, Beschluss vom 28. September 2010 - 5 StR 330/10 - ≪bundesgerichtshof.de≫). Dass die "Vollstreckungslösung" auch bei der Verhängung von Jugend arrest Anwendung finden kann, vertritt - soweit ersichtlich - niemand. Ohnehin ist dieser Weg der Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen für den Jugendarrest, der im Falle des Dauerarrestes höchstens vier Wochen betragen darf (§ 16 Abs. 4 Satz 1 JGG), nicht geeignet. Eine Anwendung der "Vollstreckungslösung" würde angesichts dieser Höchstdauer nicht mehr zu sinnvollen Rechtsfolgenaussprüchen führen.
c) Die Verfahrensverzögerung ist bei der Verhängung von Jugendarrest vielmehr als Gesichtspunkt im Rahmen der Zuchtmittelbemessung zu berücksichtigen. Der Rechtsfolgenausspruch in dem angefochtenen Urteil beruht (§ 337 Abs. 1 StPO) indes im vorliegenden Fall nicht darauf, dass das Amtsgericht das Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht ausdrücklich ausgesprochen hat. Der Senat kann insbesondere angesichts der Anzahl der Taten, des von der Angeklagten durch ihre Taten verursachten Gesamtschadens von fast 20.000 € sowie ihres gewerbsmäßigen Vorgehens ausschließen, dass das Amtsgericht bei einer ausdrücklichen Feststellung der vorliegenden rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung eine für die Angeklagte (noch) weniger belastende Rechtsfolgenentscheidung getroffen hätte.
3. Da die Formulierung des Schuldspruches in dem angefochtenen Urteil zu Missverständnissen Anlass geben kann, hat der Senat den Schuldspruch zur Klarstellung neu gefasst. Die Angeklagte ist danach des Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung in drei Fällen (Fälle II 1, II 2 und II 3 der Urteilsgründe), des Betruges in weiteren sechs Fällen (Fälle II 4, II 5, II 7, I...