Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwere der Tat. Notwendige Mitwirkung eines Verteidigers. drohender Bewährungswiderruf
Leitsatz (amtlich)
Bei der Beurteilung, ob eine Tat als "schwer" im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO anzusehen ist, sind neben der zu erwartenden Rechtsfolge für die verfahrensgegenständliche Tat auch solche weitere Freiheitsstrafen aus anderen Verfahren zu berücksichtigen, deren Verbüßung aufgrund eines Bewährungswiderrufs im Falle der Verurteilung droht. Ab einer zu erwartenden Gesamtverbüßungsdauer von einem Jahr ist regelmäßig die Mitwirkung eines Verteidigers geboten.
Normenkette
StPO § 338 Nr. 5, § 140 Abs. 2
Verfahrensgang
AG Arnsberg (Aktenzeichen 4 Ds 152/19) |
Tenor
- Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
- Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Arnsberg zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Arnsberg hat den bis dahin nicht verteidigten Angeklagten mit Urteil vom 02.10.2019: (Az. 4 Ds-192 Js 969/19 - 152/19) wegen Erschleichens von Leistungen in vier Fällen sowie wegen Betrugs zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Gegen dieses in Anwesenheit des Angeklagten verkündete Urteil hat dieser durch seinen Verteidiger mit dem am 02.10.2019 beim Amtsgericht Arnsberg eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt. Das Urteil ist dem Angeklagten am 16.11.2019 und seinem Verteidiger am 15.11.2019 zugestellt worden.
Mit weiterem Schriftsatz vom 21.11.2019, eingegangen beim Amtsgericht Arnsberg am gleichen Tag, hat der Angeklagte bzw. sein Verteidiger mitgeteilt, dass das Rechtsmittel nunmehr als (Sprung-)Revision durchgeführt werden soll und beantragt, das angefochtene Urteil mitsamt den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben. Wegen der fehlenden Mitwirkung eines Verteidigers seien § 338 Nr. 5 StPO i.Vm. § 140 Abs. 2 StPO verletzt. Ein Fall der notwendigen Verteidigung habe vorgelegen, weil der Angeklagte neben der Verbüßung der im hiesigen Verfahren ausgeurteilten Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten zusätzlich noch den Bewährungswiderruf der durch Urteil des Amtsgerichts Arnsberg vom 16.01.2019 (Az: 4 Ds - 263 Js 553/18 - 250/18) wegen Betrugs in zwei Fällen verhängten siebenmonatigen Gesamtfreiheitsstrafe zu erwarten habe. Ferner hat der Angeklagte die Sachrüge erhoben. Die Einzelstrafen für die Beförderungserschleichungen von jeweils zwei Monaten und für den Betrug von sechs Monaten seien im Hinblick auf den Fahrpreis von jeweils nur 5,10 € bzw. den Betrugsschaden in Höhe von nur 92,99 € unverhältnismäßig.
Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm hat mit Antragsschrift vom 24.01.2020 beantragt, die Revision des Angeklagten als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.
II.
1.
Die nach §§ 335 Abs. 1, 312 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (Sprung-) Revision hat wegen der Verletzung von § 338 Nr. 5 StPO i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO - jedenfalls vorläufig - Erfolg.
a)
Es kann offen bleiben, ob die vom Angeklagten erhobene Rüge der unterlassenen Mitwirkung eines Verteidigers (§ 338 Nr. 5 StPO i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO) den Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt. Denn das Revisionsgericht ist - wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme zutreffend ausgeführt hat - nicht gehindert, bei der Prüfung einer Verfahrensrüge und bei zugleich erhobener (zulässiger) Sachrüge den Urteilsinhalt ergänzend zu berücksichtigen (OLG Köln NStZ-RR 1998, 336; Schmitt, in: Meyer-Goßner, StPO, 62. Aufl. 2019, § 344 StPO Rn. 20). Unter Heranziehung des Urteilsinhalts, insbesondere der dort aufgeführten Vorstrafe des Angeklagten, verfügt der Senat jedenfalls über die Tatsachen, die zur Prüfung der Frage erforderlich sind, ob dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger hätte beigeordnet werden müssen.
b)
Die damit zulässige Verfahrensrüge ist auch begründet, da ein Verteidiger im erstinstanzlichen Verfahren nicht mitgewirkt hat, obgleich ein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 2 StPO gegeben ist.
Die nach der vorgenannten Norm maßgebliche "Schwere der Tat" beurteilt sich vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung, wobei regelmäßig ab einer Straferwartung von einem Jahr Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers besteht (stRspr; KG Berlin StV 2019, 175 [2] m.w.N.; Schmitt, in: Meyer-Goßner, a.a.O., § 140 StPO Rn. 23 m.w.N.). Nach gefestigter Rechtsprechung, auch der des Senats, sind hierbei neben der Rechtsfolge für die verfahrensgegenständliche Tat auch sonstige schwerwiegende unmittelbare oder mittelbare Nachteile zu berücksichtigen, die der Angeklagte zu gewärtigen hat (OLG Hamm NStZ-RR 2001, 107; OLG Hamm VRS 100, 307; OLG Celle, Beschluss vom 30.05.2012, Az: 32 Ss 52/12 - juris; OLG Nürnberg, Beschluss vom 16.01.2014, Az: 8 Ss 259/13 - juris; KG Berlin BeckRS 2016, 129697; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 13.08.2019, Az: 1...