Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Ladung zur Berufungsverhandlung. Ersatzzustellung
Leitsatz (amtlich)
1. Wird der Angeklagte im Wege der Ersatzzustellung durch Einlegung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten (§ 180 ZPO) geladen, so ist von einer wirksamen Ladung auszugehen, wenn der Angeklagte zum Zustellungszeitpunkt unter der Zustelladresse tatsächlich wohnhaft war oder zu einer vormals dauerhaft genutzten Wohnung einen fortlaufenden Kontakt beibehält. Letzteres kann dadurch geschehen, dass der Zustellungsadressat seine vormalige Wohnung (hier: im Haus seiner Großmutter) weiterhin für das Sammeln und die Weiterleitung der an ihn gerichteten Post nutzt.
2. Eine wirksame Ersatzzustellung kann auch durch Einwurf der Ladung in einen Gemeinschaftsbriefkasten erfolgen. Dies setzt voraus, dass der Gemeinschaftsbriefkasten durch eine entsprechende Beschriftung eine eindeutige Zuordnung zum Zustellungsempfänger erlaubt, der Adressat seine Post typischerweise erhält und der Kreis der Mitbenutzer überschaubar ist.
3. Für die Verschuldensfrage im Sinne des § 329 StPO ist maßgeblich, ob dem Angeklagten nach den Umständen des Einzelfalls wegen seines Ausbleibens billigerweise ein Vorwurf zu machen ist. Dies ist der Fall, wenn der Angeklagte hinsichtlich des Zeitpunkts des Beginns der Berufungshauptverhandlung allein auf die Angaben zur Terminsstunde aus einer Zeugenladung vertraut, die sich der Angeklagte über sein Handy als Fotodatei von dem Zeugen übersenden lässt. War der Zeuge aufgrund einer sog, gestaffelten Zeugenladung zu einer späteren Terminsstunde geladen und erscheint deshalb auch der Angeklagte nicht zu Beginn der Berufungshauptverhandlung, liegt ein Verschulden im Sinne des § 329 StPO vor.
Normenkette
StPO § 45; ZPO § 180; StPO §§ 329, 44
Verfahrensgang
LG Essen (Aktenzeichen 28 Ns 178/13) |
Tenor
1.
Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten des Angeklagten als unbegründet verworfen.
2.
Dem Angeklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision gewährt.
3.
Die Revision des Angeklagten wird auf seine Kosten als offensichtlich unbegründet verworfen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht H hat den Angeklagten mit Urteil vom 24. Oktober 2013 wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 40,00 EUR verurteilt. Das Urteil ist dem Angeklagten unter der Anschrift N-Straße in ##### L - seinem damaligen Hauptwohnsitz - zugestellt worden. Unter dieser Adresse leben auch die Großmutter des Angeklagten, Frau Q, sowie eine Tante des Angeklagten, Frau S, und deren Ehemann, Herr S2. Für das Haus gibt es einschließlich eines dort befindlichen Gästehauses, in dem der Angeklagte seine Wohnung hatte, einen gemeinsamen Briefkasten, auf dem die Namen "Q" und "S" angebracht sind. Seit dem 01. Januar 2014 lebt der Angeklagte unter der Anschrift M-Straße in ##### H, seinem früheren Nebenwohnsitz. Die noch an seine bisherige Wohnung in L gerichtete Post ließ sich der Angeklagte vereinbarungsgemäß von seinen Familienangehörigen mit einfacher Post an seine neue Anschrift in H nachsenden. Einen förmlichen Nachsendeauftrag bei der Post richtete der Angeklagte nicht ein.
Der Angeklagte hat gegen das amtsgerichtliche Urteil vom 24. Oktober 2013 privatschriftlich Berufung eingelegt und hiernach Rechtsanwalt P in H als Verteidiger beauftragt. In der diesbezüglichen Strafprozessvollmacht vom 19. November 2013 war als damalige Wohnanschrift des Angeklagten nach wie vor "N-Straße in ##### L" angegeben. Aus Anlass des Umzugs von L nach H zum Jahreswechsel 2013/2014 wurde die neue Anschrift des Angeklagten nicht zur Gerichtsakte angezeigt.
Die Vorsitzende der VIII. kleinen Strafkammer des Landgerichts Essen hat Termin zur Berufungshauptverhandlung auf den 12. Mai 2014, 9:30 Uhr bestimmt und die Ladung des Angeklagten unter der Anschrift "N-Straße in ##### L" verfügt. Da die Ladung dem Angeklagten nicht persönlich übergeben werden konnte, ist das Schriftstück ausweislich der Postzustellungsurkunde vom 20. Februar 2014 in den dort befindlichen Briefkasten, auf dem - wie ausgeführt - die Namen "Q" und "S" angebracht waren, eingelegt worden.
In dem Termin zur Berufungshauptverhandlung am 12. Mai 2014, 9:30 Uhr ist der Angeklagte nicht erschienen. Nach kurzfristiger Unterbrechung ist die Verhandlung um 9:51 Uhr fortgesetzt worden. Hieraufhin hat das Landgericht die Berufung des Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO kostenpflichtig verworfen.
Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 14. Mai 2014 hat der Angeklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung beantragt und zur Begründung ausgeführt, er sei nicht ordnungsgemäß geladen worden. Zugleich hat er Revision gegen das Verwerfungsurteil vom 12. Mai 2014 eingelegt und die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt. Der Schriftsatz vom 14. Mai 2014 ist infolge eines Zuordnungsfehlers in der Kanzlei des Verteidigers allerdings nicht an das Lan...