Entscheidungsstichwort (Thema)

Verwerfungsurteil. Terminsaufhebungsantrag. Terminsverlegungsantrag. Verhinderung des Verteidigers. rechtliches Gehör. prozessuale Fürsorgepflicht

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Ablehnung eines auf die Verhinderung des Verteidigers gestützten Terminsaufhebungs- oder -verlegungsantrages als solche berührt den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 1 GG (Anspruch auf rechtliches Gehör) nicht.

2. Die Ablehnung eines solchen Antrages kann indes gegen die prozessuale Fürsorgepflicht verstoßen. Hierbei kommt es auf das Ergebnis der Abwägung zwischen dem Interesse des Betroffenen an seiner wirksamen Verteidigung und dem Interesse an einer möglichst reibungslosen und zügigen Durchführung des Verfahrens an (im Anschluss an BayObLG, Beschluss vom 31.05.1994 - 2 ObOWi 194/94 - ≪[...]≫; BayObLG, NStZ 2002, 97).

3. Hat das Amtsgericht einen auf die Verhinderung des Verteidigers gestützten Terminsaufhebungs- oder -verlegungsantrag rechtsfehlerhaft abgelehnt, beruht ein im Termin ergangenes Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG auf diesem Rechtsfehler, sofern nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Betroffene in einer Hauptverhandlung an einem anderen Tage erschienen wäre.

 

Normenkette

OWiG § 74 Abs. 2; GG Art. 103 Abs. 1; StPO § 137 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

AG Bielefeld (Aktenzeichen 36 OWi 1139/11)

 

Tenor

  • 1.

    (Entscheidung des Einzelrichters Richter am Oberlandesgericht G)

    Die Sache wird dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.

  • 2.

    (Entscheidung des Bußgeldsenats in der Besetzung mit drei Richtern)

    Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.

    Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Bielefeld zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Der Oberbürgermeister der Stadt C verhängte gegen den Betroffenen mit Bußgeldbescheid vom 29. Juli 2011 wegen (fahrlässiger) Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit eine Geldbuße von 180 € sowie ein Fahrverbot für die Dauer von einem Monat. In der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht am

16. Januar 2012 bestritt der Betroffene, der damals noch keinen Verteidiger hatte, das Tatfahrzeug zur Tatzeit geführt zu haben. Das Amtsgericht setzte daraufhin die Hauptverhandlung aus und ordnete die Einholung eines in einem neuen Hauptverhandlungstermin mündlich zu erstattenden Sachverständigengutachtens zur Frage der Identität des Betroffenen mit der auf dem Geschwindigkeitsmessfoto abgebildeten Person an. Den neuen Hauptverhandlungstermin beraumte das Amtsgericht auf den 9. Mai 2012 an. In der Hauptverhandlung an diesem Tage erschienen weder der Betroffene noch der von ihm zwischenzeitlich gewählte Verteidiger, woraufhin das Amtsgericht den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid nach § 74 Abs. 2 OWiG verwarf.

Mit seiner Rechtsbeschwerde gegen das Verwerfungsurteil rügt der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Der Einzelrichter des Senats überträgt die Sache dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern, weil es geboten ist, das angefochtene Urteil zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nachzuprüfen (§ 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG).

II.

Das Rechtsmittel des Betroffenen hat (vorläufig) Erfolg.

1.

Auf die erhobene Sachrüge war lediglich zu prüfen, ob ein Verfahrenshindernis von Anfang an vorgelegen hat oder im Laufe des Verfahrens entstanden ist (vgl. BGHSt 46, 230 = NStZ 2001, 440). Das ist nicht der Fall.

2.

Die von dem Betroffenen erhobene Verfahrensrüge, das Amtsgericht habe einen Antrag, den Hauptverhandlungstermin am 9. Mai 2012 wegen der Verhinderung

seines Verteidigers aufgrund einer Terminskollision mit einem von dem Verteidiger an diesem Tage wahrzunehmenden Berufungshauptverhandlungstermin in einer Strafsache (gegen einen Dritten) vor dem Landgericht Saarbrücken aufzuheben, rechtsfehlerhaft abgelehnt, ist zulässig und begründet. Einer Erörterung der daneben von dem Betroffenen erhobenen zweiten Verfahrensrüge sowie des Antrages des Betroffenen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, mit dem der Betroffene die Berücksichtigung eines nach Ablauf der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist bei

Gericht eingegangenen Schriftsatzes, der weiteres Vorbringen zu dieser zweiten Verfahrensrüge enthält, anstrebt, bedarf es daher nicht.

a)

Die Rüge, das Amtsgericht habe einen auf die Verhinderung des Verteidigers gestützten Terminsaufhebungsantrag rechtsfehlerhaft abgelehnt, genügt den Begründungsanforderungen nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Aufgrund des Rügevorbringens sowie des Inhaltes der Akten, der dem Senat nach der in zulässiger Weise erfolgten Erhebung der Verfahrensrüge zugänglich ist, steht - soweit für die hier zu beurteilende Rüge von Bedeutung - folgender Verfahrensablauf fest:

Mit Schriftsatz vom 19. April 2012 beantragte der Verteidiger, den Hauptverhandlungstermin am 9. Mai 2012 aufzuheben und vor einer etwaigen neuen Hauptverhandlung eine Stellungnahme des Sachverständigen zur Frage d...

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