Leitsatz (amtlich)
Zur Fluchtgefahr bei einem ausländischen Angeklagten, dem allenfalls eine Strafe von vier Jahren Freiheitsstrafe droht, von der aber schon fast zwei Jahre verbüßt sind.
Die Vorlage und Weiterleitung der Akten nach § 306 Abs. 2 StPO unterliegt nicht der Disposition des Verteidigers, so dass das Gericht, dessen Entscheidung angegriffen wird, die Akten nicht wegen einer angekündigten Beschwerdebegründung zurückhalten darf.
Verfahrensgang
Tenor
Der Haftbefehl des Landgerichts Bochum vom 11. Dezember 2001 (21 KLs 46 Js 53/00 (I 43/00) LG Bochum) wird aufgehoben.
Die Landeskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen.
Gründe
I.
Der Angeklagte wurde am 2. Mai 2000 aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Recklinghausen vom 5. April 2000 wegen des Vorwurfs des Verstoßes gegen das BtM-Gesetz festgenommen. Im November 2000 fand dann die Hauptverhandlung bei der 2. auswärtigen Strafkammer Recklinghausen des Landgerichts Bochum statt. Diese verurteilte den Angeklagten am 20. November 2000 wegen unerlaubten gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 188 Fällen sowie wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Anstiftung zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren. Dabei erkannte die Strafkammer wegen des Vorwurfs des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Anstiftung zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge auf eine Einsatzstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten.
Mit Beschluss vom 8. Mai 2001 hat der BGH unter Verwerfung der Revision des Angeklagten im Übrigen das Urteil vom 20. November 2000 hinsichtlich der 188 Einzeltaten sowie im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufgehoben und das Verfahren an das Landgericht Bochum zurückverwiesen. Dort ist jetzt die 1. auswärtige Strafkammer zuständig.
Der Angeklagte verbüßt inzwischen die rechtskräftige Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten. Strafende ist auf den 1. November 2002 notiert. Die Entlassung des Angeklagten aus der Strafhaft nach Verbüßung von 2/3 der erkannten Strafe ist durch inzwischen rechtskräftigen Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum vom 17. Januar 2002 abgelehnt worden. Im Verfahren hatte die Justizvollzugsanstalt die vorzeitige Entlassung des Angeklagten befürwortet.
Das Landgericht hat unter dem 11. Dezember 2001 einen neuen Haftbefehl gegen den Angeklagten erlassen. Diesen hat es nicht nur auf die 188 noch nicht rechtskräftig festgestellten Taten gestützt, sondern auch auf die Tat, wegen der der Angeklagte bereits rechtskräftig zu der Einsatzstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt ist, die er derzeit verbüßt. Als Haftgrund hat die Strafkammer Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO angenommen und diese wie folgt begründet.
"Der Angeklagte ist Ausländer ungeklärter Staatsangehörigkeit. Aufgrund seiner Herkunft - die er in der Vergangenheit mal mit Libyen, mal mit Libanon angegeben hat - hat er Auslandskontakte. Er ist zwar mit einer deutschen Frau verheiratet, mit der er zwei Kinder hat. In der Zeit vor seiner Verhaftung hat er jedoch nicht mit seiner Familie zusammengelebt. Er hat umfangreiche Kontakte im Drogenmilieu. All dies begründet unter weiterer Berücksichtigung des Umstandes, daß er von der 2. Strafkammer - bezüglich einer Einzelstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten rechtskräftig - zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt worden ist und er in dem nunmehr vor der Kammer anhängigen Verfahren erneut mit der Verhängung einer langjährigen Gesamtfreiheitsstrafe rechnen muß, einen erheblichen Fluchtanreiz. Diesem kann wirksam nur durch die Anordnung der Untersuchungshaft begegnet werden. "
Gegen diesen Haftbefehl hat der Angeklagte durch seinen Verteidiger Beschwerde eingelegt, der das Landgericht nicht abgeholfen hat. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Haftbeschwerde zu verwerfen.
II.
Die Haftbeschwerde ist zulässig (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl. , 2001, § 117 Rn. 8). Sie ist auch begründet und führt zur Aufhebung des Haftbefehls vom 11. Dezember 2001.
1. Dahinstehen kann, ob der Haftbefehl bei der Begründung des "dringenden Tatverdachts" im Sinn des § 112 StPO von der zutreffenden tatsächlichen Grundlage ausgeht. Das Landgericht legt dem Haftbefehl nämlich offenbar auch noch die aufgrund des Beschlusses des BGH vom 8. Mai 2001 bereits rechtskräftig festgestellte Tat eines Verstoßes gegen das BTM-Gesetz, wegen der der Angeklagte derzeit die auf 2 Jahre und 6 Monate festgesetzte Einsatzstrafe verbüßt, zugrunde. Insoweit scheint die Strafkammer zu übersehen, dass der Angeklagte wegen dieser Tat Strafhaft verbüßt und diese Tat daher demgemäss im Rahmen des "dringenden Tatverdachts" bei der Anordnung von Untersuchungshaft nicht mehr berücksichtigt werden kann,...