Entscheidungsstichwort (Thema)

Bußgeldbescheid. Anklageschrift. Konkretisierung. Unwirksamkeit. Verfahrensvoraussetzung. Prozessvoraussetzung. Covid-19. Corona. Betrieb einer gastronomischen Einrichtung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Sachverhalt, in dem die Verwaltungsbehörde den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit erblickt, unter Anführung der Tatsachen, die die einzelnen Tatbestandsmerkmale erfüllen, als geschichtlicher Lebensvorgang so konkret zu schildern, dass dem Betroffenen erkennbar wird, welches Tun oder Unterlassen Gegenstand der Ahndung sein soll und gegen welchen Vorwurf er sich daher verteidigen muss. Der Umfang der Tatschilderung wird maßgeblich von der Gestaltung des Einzelfalls und der Art der verletzten Vorschrift bestimmt.

2. Wesentlich für den Bußgeldbescheid als Prozessvoraussetzung ist seine Aufgabe, den Tatvorwurf in persönlicher, sachlicher und rechtlicher Hinsicht von anderen denkbaren Tatvorwürfen abzugrenzen. Diese Aufgabe erfüllt er in sachlicher Hinsicht, wenn nach seinem Inhalt kein Zweifel über die Identität der Tat entstehen kann, wenn also zweifelsfrei feststeht, welcher Lebensvorgang erfasst und geahndet werden soll. Mängel in dieser Richtung lassen sich weder mit Hilfe anderer Erkenntnisquellen, etwa dem Akteninhalt im Übrigen, ergänzen noch nachträglich, etwa durch Hinweise in der Hauptverhandlung, „heilen”.

 

Normenkette

OWiG § 66 Abs. 1 Nr. 3; CoronaSchVO NRW § 9 Abs. 1 S. 1 Fassung: 2020-03-22

 

Verfahrensgang

AG Detmold (Aktenzeichen 4 OWi 215/21)

 

Tenor

  1. Die Sache wird auf den Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden übertragen (Einzelrichterentscheidung).
  2. Das angefochtene Urteil wird aufgehoben.

    Das Verfahren wird eingestellt.

    Die Kosten des Verfahrens und die dem Betroffenen entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

 

Gründe

I.

Der Bürgermeister der Stadt A hat gegen den Betroffenen am 24.06.2020 einen Bußgeldbescheid erlassen. Dieser lautet:

"... Ihnen wird vorgeworfen, am 00.04.2020 um 16:50 Uhr in A, Bstraße 27, folgende Ordnungswidrigkeit(en) begangen zu haben:

Sie haben vorsätzlich einer vollziehbaren Anordnung nach dem Infektionsschutzgesetz (§§ 28 Abs. 1 Satz [Auslassung im Original, Anm. des Senats] § 32 Satz 1 IfSG) zuwidergehandelt.

Konkretisierung: Betrieb einer dort genannten gastronomischen Einrichtung (§ 9 Abs. 1 S. 1 CoronaSchVO) §§ 73 Abs. 1a Ziff. 6, 24 Abs. 2 Infektionsschutzgesetz (IfSG) i.V. (§§ 9 Abs. 1 S. 1, 14 Abs. 2 Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (CoronaSchVO)" [Interpunktion im Original, Anm. des Senats].

Das Bußgeld ist auf 4.000 Euro festgesetzt worden.

Gegen den am 25.06.2020 zugestellten Bußgeldbescheid hat der Betroffene - eingehend am 26.06.2020 - Einspruch eingelegt.

Das Amtsgericht hat ihn daraufhin wegen "vorsätzlichem Betrieb einer gastronomischen Einrichtung und dadurch bedingter Zuwiderhandlung gegen eine vollziehbare Anordnung nach dem Infektionsschutzgesetz" zu einer Geldbuße von 4.000 Euro verurteilt.

Gegen das Urteil wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde. Er rügt (jedenfalls) die Verletzung materiellen Rechts. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch aufzuheben und die Sache insoweit zurückzuverweisen sowie die weitergehende Rechtsbeschwerde als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.

II.

Der mitunterzeichnende Einzelrichter, C, hat die Sache zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung bzgl. der an die Konkretisierung des Tatvorwurfs in einem Bußgeldbescheid im Hinblick auf dessen Abgrenzungsfunktion zu stellenden Anforderungen gem. § 80a Abs. 3 OWiG auf den Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden übertragen.

III.

Die nach § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Einstellung des Verfahrens.

Es besteht ein Verfahrenshindernis, weil der Bußgeldbescheid vom 24.06.2020 unwirksam ist.

Nach § 66 Abs. 1 Nr. 3 OWiG muss der Bußgeldbescheid "die Bezeichnung der Tat, die dem Betroffenen zur Last gelegt wird, Zeit und Ort ihrer Begehung, die gesetzlichen Merkmale der Ordnungswidrigkeit und die angewendeten Bußgeld vor Schriften" enthalten. Das entspricht den Anforderungen, die an die Anklageschrift und an den Strafbefehl gestellt werden, dem der Bußgeldbescheid nachgebildet worden ist. Der Bußgeldbescheid erfüllt denn auch dieselben Aufgaben. Er enthält wie der Strafbefehl die Beschuldigung, die den Gegenstand des Verwaltungsverfahrens - im Falle der Einspruchseinlegung, wie die Anklageschrift, auch den Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens - in persönlicher, sachlicher und rechtlicher Hinsicht abgrenzt und mithin auch den Umfang der Rechtskraft (§ 84 OWiG) bestimmt. Außerdem soll er dem Betroffenen ein Bild von der Berechtigung des gegen ihn erhobenen Vorwurfes verschaffen, damit der Betroffene wie beim Strafbefehl prüfen kann, ob er Einspruch einlegen und wie er für di...

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