Leitsatz (amtlich)
Im Hinblick auf das Urteil des EGMR vom 3. Oktober 2002 (siehe StV 2003, 82 ff.) kann die Strafaussetzung zur Bewährung wegen einer neuen, noch nicht rechtskräftig festgestellten Straftat nach § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB allenfalls noch in Ausnahmefällen und nur dann, wenn die Unschuldsvermutung nicht entgegensteht, widerrufen werden.
Verfahrensgang
LG Bochum (Entscheidung vom 02.09.2003) |
Tenor
Die Beschlüsse des Landgerichts Bochum vom 2. September 2003 werden aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum, das auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben wird, zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der Verurteilte ist durch Urteil des Amtsgerichts Mülheim vom 27. November 1997 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in 4 Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und 10 Monaten verurteilt worden. Außerdem ist gegen ihn durch Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Norden vom 6. Oktober 1998 aus drei Verurteilungen aus dem Jahr 1997, u.a. wegen Diebstahls, eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten festgesetzt worden. Nach Teilverbüßung ist die Vollstreckung dieser Strafen durch Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum vom 24. April 2002 zur Bewährung ausgesetzt worden. Diese Strafaussetzungen zur Bewährung hat die Strafvollstreckungskammer nun durch die angefochtenen Beschlüsse widerrufen. Zur Begründung hat sie angeführt, dass der Verurteilte während der Bewährungszeit eine neue Straftat begangen und gegen Auflagen und Weisungen verstoßen habe. Dagegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Verurteilten. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die angefochtenen Beschlüsse aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen.
II.
Die sofortigen Beschwerden sind zulässig und haben auch in der Sache - zumindest vorläufig - Erfolg.
1.
Der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung konnte nicht auf § 56 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB gestützt werden.
Nach § 56 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB widerruft das Gericht die Strafaussetzung zur Bewährung, wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zu Grunde lag, sich nicht erfüllt hat und weitere Auflagen oder Weisungen oder die Verlängerung der Bewährungszeit nicht ausreichen. Insoweit hat der erkennende Senat in der Vergangenheit - in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung der übrigen Strafsenate des OLG Hamm und der im Wesentlichen übereinstimmenden Meinung der Obergerichte - die Auffassung vertreten, dass der Widerruf einer Strafaussetzung nach § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht voraussetzt, dass der Verurteilte wegen der neuen Tat rechtskräftig verurteilt ist. Als ausreichend ist es vielmehr angesehen worden, dass sich das die Strafaussetzung widerrufende Gericht auf Grund zweifelsfreier Tatsachen, insbesondere eines glaubwürdigen Geständnisses, in eigenständiger Würdigung davon überzeugt hat, dass der Verurteilte die neue (Anlass)Tat schuldhaft begangen hat (vgl. u.a. Beschluss des Senats vom 22. Oktober 2001 - 2 Ws 166-168/01; so auch Tröndle/Fischer, StGB, 51. Aufl., § 56 f Rn. 5 ff. mit weiteren Nachweisen aus der obergerichtlichen Rechtsprechung).
An dieser Rechtsprechung hält der Senat im Hinblick auf das Urteil des EGMR vom 3. Oktober 2002 (siehe StV 2003, 82 ff.) nicht mehr fest. Der EGMR hat ausgeführt, dass eine Verletzung der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 MRK) vorliege, wenn der Bewährungswiderruf auf die in einem Verfahren ohne die Förmlichkeit einer Hauptverhandlung gewonnene Überzeugung, dass der Verurteilte eine neue Straftat begangen habe, gestützt werde, obwohl gleichzeitig bei einem anderen Gericht das Hauptverfahren wegen dieses Geschehens noch anhängig ist (so im Anschluss an den EGMR auch OLG Jena StV 2003, 574, 575; OLG Celle StV 2003, 575). Damit kann die Strafaussetzung zur Bewährung wegen einer neuen Straftat nach § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB allenfalls noch in Ausnahmefällen und nur dann, wenn die Unschuldsvermutung nicht entgegensteht, widerrufen werden.
Wann ein solcher Ausnahmefall vorliegt, braucht der Senat vorliegend nicht abschließend zu entscheiden. Dahinstehen kann damit auch die Frage, ob immer dann von einem Ausnahmefall auszugehen ist, wenn der Verurteilte die "neue Tat zweifelsfrei glaubhaft gestanden" hat (so offenbar OLG Jena StV 2003, 574; siehe aber OLG Jena StV 2003, 575). Insoweit merkt der Senat an, dass das zumindest dann zweifelhaft sein dürfte, wenn der Verurteilte sein Geständnis noch widerrufen kann, er also z.B. Berufung gegen ein amtsgerichtliches Urteil eingelegt und diese nicht auf das Strafmaß beschränkt hat, sodass die tatsächlichen Feststellungen zur Anlasstat eben nicht rechtskräftig geworden sind (siehe dazu OLG Jena, a.a....