Leitsatz (amtlich)
Ist die Unterzeichnung des nach Urteilsdiktat abgefassten schriftlichen Urteilsentwurfs durch den an der Entscheidungsfindung allein beteiligten Berufsrichter dauerhaft unmöglich, so ist dieser Umstand dem Nichtvorhandensein der schriftlichen Urteilsgründe gleichzusetzen und im Rahmen der revisionsrechtlichen Überprüfung auf die Sachrüge zu berücksichtigen.
Verfahrensgang
AG Minden (Entscheidung vom 09.04.2010; Aktenzeichen 12 Ls 66 Js 566/09 - 102/09) |
Tenor
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen - an eine andere als Jugendschöffengericht zuständige Abteilung des Amtsgerichts Minden zurückverwiesen.
Gründe
I.
Nach durchgeführter Hauptverhandlung verhängte das Amtsgericht
- Jugendschöffengericht - Minden am 09.04.2010 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern eine Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten gegen den Angeklagten.
Die Urteilsgründe diktierte die zuständige Amtsrichterin auf Tonträger und verfügte am 19.04.2010 die Erstellung der Urteilsniederschrift nach Maßgabe des Diktats.
Vor Erhalt der am 12.05.2010 zu den Akten gelangten Niederschrift verstarb die Amtsrichterin.
Die Urteilsniederschrift wurde mit folgendem Vermerk versehen:
" Eine Unterschrift der zuständigen Richterin am Amtsgericht M war nicht mehr möglich.
Daher folgt die Unterschrift in Vertretung durch den Richter am Amtsgericht I."
Eine Unterschrift trägt die Niederschrift - dementgegen - nicht.
An den Verteidiger des Angeklagten wurden in der Folgezeit eine Abschrift des Hauptverhandlungsprotokolls sowie der Urteilstenor ohne Gründe zugestellt.
Gegen das Urteil wendet sich der Angeklagte mit der Revision und rügt die Verletzung formellen sowie materiellen Rechts.
II.
Die zulässige Sprungrevision hat einen zumindest vorläufigen Erfolg.
Das angefochtene Urteil war aufzuheben und die Sache an eine andere als Jugendschöffengericht tätige Abteilung des Amtsgericht Minden zurückzuverweisen (§§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 2 StPO).
Die fehlende Unterzeichnung des schriftlichen Urteilsentwurfs und das damit hier gänzliche Fehlen der Urteilsgründe haben einen durchgreifenden Rechtsfehler zur Folge.
1.
Der Senat konnte unentschieden lassen, ob eine Aufhebung des Urteils auch auf die Verfahrensrüge hin in Betracht gekommen wäre.
Zwar genügt die im Einzelnen näher ausgeführte und zulässig erhobene formelle Rüge der fehlenden bzw. verspäteten Urteilsbegründung nach § 338 Nr. 7 StPO den Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO.
Die Revision teilt als maßgebliche Verfahrenstatsachen auch das Fehlen der Unterschrift der erkennenden Berufsrichterin sowohl unter der im Protokoll niedergelegten Urteilsformel als auch unter den in den Akten befindlichen schriftlichen Urteilsgründen mit, was deswegen erheblich ist, weil die Unterzeichnung des Urteils durch die mitwirkenden Berufsrichter ausschließlich in einer Norm des Verfahrensrechts (§ 275 Abs. 2 StPO) vorgesehen ist, und deswegen derartige Rechtsfehler grundsätzlich mit der Verfahrensbeschwerde geltend zu machen sind (vgl. BGH, Beschl. v. 21.11.2000 - 4 StR 354/00).
2.
Auch auf die Sachrüge indes darf ein solcher Mangel jedenfalls dann beachtet werden, wenn die Urteilsgründe völlig fehlen (BGH, wie vor; BGH, Beschl. v. 26.06.1992 - 3 StR 170/92 = BGHR StPO § 338 Nr. 7 Entscheidungsgründe 2; OLG Hamm, NStZ-RR 2009, S. 24; OLG Celle, NJW 1959, S. 1647; Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. § 338 Rdn. 52; Hanack in Löwe/Rosenberg, StPO, § 338 Rdn. 115), oder - was dem Nichtvorhandensein einer schriftlichen Urteilsbegründung gleichzusetzen ist - wenn das Urteil überhaupt keine Unterschriften trägt (vgl. BGH, Beschl. v. 21.11.2000 - 4 StR 354/00; OLG Frankfurt, NStZ-RR 2010, S. 250 m. zahlr. w. N.).
So verhält es sich hier.
Das Fehlen der Unterschrift der im Spruchkörper allein befassten Berufsrichterin unter den nach Urteilsdiktat abgefassten schriftlichen Urteilsgründen begründet eine auf die materielle Rüge zu beachtende Rechtsfehlerhaftigkeit, denn in Ermangelung der Unterschrift der erkennenden und allein entscheidenden Berufsrichterin ist der Inhalt der schriftlich fixierten Urteilsgründe nicht gedeckt, so dass dem Revisionsgericht die Überprüfung, ob das Amtsgericht das sachliche Recht zutreffend angewandt hat, nicht möglich ist (so schon: OLG Celle, NJW 1959, S. 16478).
Mit den gem. §§ 267, 275 Abs. 1 StPO zu den Akten zu bringenden schriftlichen Urteilsgründen bezeugen die beteiligten Berufsrichter durch die Unterschrift, dass es sich bei den schriftlich niedergelegten Gründen um die Gründe des Gerichts handelt, die in der Beratung gewonnen worden sind (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 267 Rdn. 1 u. § 275 Rdn. 3; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, § 275 Rdn. 4).
Der schriftliche Entwurf des Berichterstatters eines Kollegialgerichts genügt dabei ebenso wenig wie das Diktat - eines alleinig beteiligten Berufsrichters - auf Tonträger (OLG H...