Entscheidungsstichwort (Thema)
Neuer gewöhnlicher Aufenthalt i.S.d. § 606 Abs. 1 S. 2 ZPO nach Aufenthalts- oder Obhutswechsel eines Kindes
Leitsatz (amtlich)
Wann ein Aufenthaltswechsel oder Obhutswechsel des Kindes vom einen zum anderen Elternteil zu einem neuen gewöhnlichen Aufenthalt i.S.d. § 606 I 2 ZPO führt, bestimmt sich allein nach den tatsächlichen Verhältnissen, insbesondere nach der Dauer der Eingliederung in die neue soziale Umwelt, den vom geäußerten oder mutmaßlichen Willen des Kindes getragenen Wunsch des betreuenden Elternteils, es auf Dauer bei sich aufzunehmen und der faktischen Möglichkeit des anderen Elternteils eine Rückführung des Kindes vor dessen sozialer Eingliederung am Ort des betreuenden Elternteils gerichtlich durchzusetzen.
Normenkette
ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6, § 606 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
AG Gelsenkirchen (Aktenzeichen 24 F 237/06) |
Tenor
Örtlich zuständig ist das AG - FamG - Gelsenkirchen-Buer.
Gründe
I. Mit Antrag vom 29.6.2006 hat die Antragstellerin das Scheidungsverfahren vor dem AG - FamG - Gelsenkirchen anhängig gemacht. Nachdem die Kindesmutter zusammen mit dem gemeinsamen Kind E (geb. am 12.11.2001) im August 2006 in den Gerichtsbezirk des AG Gelsenkirchen-Buer verzogen ist, hat das FamG Gelsenkirchen die im Prozesskostenhilfeprüfverfahren befindliche Sache - nach Anhörung der Parteien auf Antrag der Antragstellerin - formlos an das AG - FamG Gelsenkirchen-Buer abgegeben. Dieses hat die Übernahme durch begründeten Beschluss vom 14.11.2006 abgelehnt und die Akten an das FamG Gelsenkirchen zurückgesandt. Mit Beschluss vom 17.11.2006 hat sich das FamG Gelsenkirchen für örtlich unzuständig erklärt und zugleich die Akten dem OLG zur Entscheidung über die örtliche Zuständigkeit vorgelegt.
II. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung entsprechend § 36 I Nr. 6 ZPO sind gegeben, da sich sowohl das AG - FamG - Gelsenkirchen als auch das AG - FamG - Gelsenkirchen-Buer durch begründeten und dem jeweils anderen Gericht zugestellten Beschluss für örtlich unzuständig erklärt haben. Dem steht nicht entgegen, dass das zugrunde liegende Scheidungsverfahren bisher nicht rechtshängig geworden ist. Es ist anerkannt, dass in sinngemäßer Anwendung der Vorschrift des § 36 I Nr. 6 ZPO das zuständige Gericht auch dann bestimmt werden kann, wenn sich die Scheidung noch im Stadium der Prozesskostenhilfeprüfung befindet und deshalb von keinem der sich um die Zuständigkeit streitenden Gerichte eine bindende Verweisung der Sache an das jeweils andere Gericht vorgenommen werden kann (vgl. OLG Hamm FamRZ 1989, 641).
Da die Parteien nach dem Umzug der Antragstellerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht mehr im Bezirk desselben Gerichts haben, richtet sich die örtliche Zuständigkeit nach § 606 I 2 ZPO. Danach kommt es darauf an, in wessen Bezirk einer der Ehegatten mit dem gemeinsamen Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Abzustellen ist dabei auf den Zeitpunkt der Rechtshängigkeit (nicht der Anhängigkeit) des Scheidungsverfahrens. Ändern sich nach Einreichung des Scheidungsantrags aber vor Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Zustellung der Antragschrift die zuständigkeitsbegründenden Tatsachen, ändert sich auch die Zuständigkeit des Gerichts (vgl. Zöller/Philippi, Zivilprozessordnung, 25. Aufl., § 606 Rz. 39 f. m.w.N.). Durch den Umzug der Antragstellerin nach Einreichung aber vor Zustellung des Scheidungsantrags ist die örtliche Zuständigkeit des AG - FamG - Gelsenkirchen-Buer begründet worden.
Dem steht nicht entgegen, dass die Parteien um das Aufenthaltsbestimmungsrecht für den minderjährigen Sohn E streiten. Die Regelung des § 606 I 2 ZPO stellt nicht auf den (vom sorgeberechtigten Elternteil abgeleiteten) Wohnsitz, sondern auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes ab. Gewöhnlicher Aufenthalt ist der Ort des tatsächlichen Lebensmittelpunktes des Minderjährigen, d.h. der Ort, der faktisch (nicht rechtlich) Schwerpunkt seiner sozialen und familiären Bindungen darstellt (vgl. BGH FamRZ 2002, 1182; OLG Hamm FamRZ 1989, 1109 f.; FamRZ 1991, 1346, 1347). Der Schwerpunkt seiner sozialen und familiären Bindungen befindet sich regelmäßig bei dem Elternteil, in dessen Obhut sich das Kind befindet (Zöller/Philippi, a.a.O., Rz. 30). Wann ein Aufenthaltswechsel oder Obhutswechsel des Kindes zu einem neuen gewöhnlichen Aufenthalt führt, bestimmt sich daher allein nach den tatsächlichen Verhältnissen, insbesondere nach der Dauer der Eingliederung in die neue soziale Umwelt, den vom geäußerten oder mutmaßlichen Willen des Kindes getragenen Wunsch des betreuenden Elternteils, es auf Dauer bei sich aufzunehmen und der faktischen Möglichkeit des anderen Elternteils eine Rückführung des Kindes vor dessen sozialer Eingliederung am Ort des betreuenden Elternteils gerichtlich durchzusetzen (vgl. BGH, a.a.O.; OLG Hamm FamRZ 1991, 1466, 1467 f.; NJWE-RR 1999, 30 f.). Auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltswechsels und den Willen des nicht betreuenden sorgeberechtigten Elternteils zur Rückführung des Kindes kom...