Leitsatz (amtlich)
Eine Verhaftung nach §§ 329 Abs. 4, 230 StPO ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dann nicht mehr zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Erwartung gerechtfertigt wäre, dass der Angeklagte in der neu anzuberaumenden Hauptverhandlung erscheinen wird.
Verfahrensgang
LG Essen (Entscheidung vom 14.02.2013) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Angeklagten vom 14. Februar 2013 gegen den Beschluss und den Haftbefehl der X. kleinen Strafkammer des Landgerichts Essen vom 14. Februar 2013 hat der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 25. Februar 2013 durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft sowie des Angeklagten bzw. seines Verteidigers beschlossen:
Der angefochtene Beschluss und der Haftbefehl werden aufgehoben.
Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der insoweit dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen (§ 473 Abs. 1 und 2 StPO).
Gründe
I.
Die Staatsanwaltschaft Essen hat den Angeklagten unter dem 10. Juli 2012 wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt und ihm zur Last gelegt, am 23. März 2012 dem Zeugen mit einer Bierflasche derart auf den Kopf geschlagen zu haben, dass dieser eine Kopfplatzwunde erlitten hat und ärztlich behandelt werden musste. Der Geschädigte hat indes in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht Gladbeck im Rahmen der Beweisaufnahme bekundet, nicht gesehen zu haben, dass der Angeklagte mit der Bierflasche zugeschlagen habe, dies könne auch durch eine der weiteren anwesenden Personen geschehen sein. Daraufhin hat das Amtsgericht den Angeklagten mit Urteil vorn 28. November 2012 unter Hinweis auf den Grundsatz "in dubio pro reo" vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung freigesprochen. Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft Essen Berufung eingelegt.
Das Landgericht Essen - X. kleine Strafkammer - hat Termin zur Berufungshauptverhandlung auf den 14. Februar 2013 anberaumt und den Angeklagten hierzu unter Hinweis auf die Folgen eines unentschuldigten Ausbleibens - einschließlich einer etwaigen Vorführung oder Verhaftung - ordnungsgemäß geladen. Am 13. Februar 2013 hat der Verteidiger des Angeklagten dem Gericht angezeigt, dass sich der Angeklagte ab dem 14. Februar 2013 für mehrere Tage in stationäre Behandlung in das Marienhospital Bottrop begeben werde. Tatsächlich ist der Angeklagte auch am 14. Februar 2013 unter Vollnarkose im Darmbereich operiert worden. Ausweislich einer vom Kammervorsitzenden noch am selben Tage eingeholten Äußerung des behandelnden Arztes war die Operation zwar medizinisch indiziert, sie hätte jedoch nicht sofort, sondern auch zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden können. Der Angeklagte habe - so die weitere Erklärung des Arztes - den Operationstermin für den 14. Februar 2013 mit dem Krankenhaus abgestimmt, ohne auf die am selben Tage stattfindende Berufungshauptverhandlung hinzuweisen.
Nachdem der Angeklagte in der Berufungshauptverhandlung nicht erschienen war, hat die Kammer auf entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft die Verhaftung des Angeklagten angeordnet und den Haftbefehl sowohl auf §§ 329 Abs. 4 S. 1, 230 StPO als auch auf § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO (Fluchtgefahr) gestützt. Wegen der Einzelheiten wird auf die dort gegebene Begründung Bezug genommen. Der Vorsitzende hat die Polizei Gladbeck sodann mit Verfügung vom 15.02.2013 angewiesen, den Haftbefehl am 26. Februar 2013 - einige Tage nach der Entlassung des Angeklagten aus dem Krankenhaus - zu vollstrecken.
Der Angeklagte hat unter dem 14. Februar 2013 (Haft-)Beschwerde eingelegt, der das Landgericht nicht abgeholfen hat. Insoweit wird wegen der Einzelheiten auf die Beschwerdebegründung vom 14. Februar 2013 sowie auf den Nichtabhilfebeschluss vom 18. Februar 2013 verwiesen.
II.
Die gem. § 304 StPO statthafte Haftbeschwerde ist zulässig und begründet.
Der Haftbefehl kann weder auf §§ 329 Abs. 4, 230 StPO noch auf § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt werden.
1. Die Verhaftung des Angeklagten nach §§ 329 Abs. 4, 230 StPO ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren.
Zwar ist das Landgericht mit Recht von einem unentschuldigten Ausbleiben des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung ausgegangen (§ 329 Abs. 1 StPO). Denn eine Operation ist kein Entschuldigungsgrund, wenn sie - wie im vorliegenden Fall - aufschiebbar ist (vgl. nur Meyer-Goßner, StPO, 55.. Aufl., § 329 Rdnr. 26 m. w. Nachw.). Auch ist unter Zugrundelegung des vom Senat eingesehenen (und der Ladung beigefügten) Vordrucks "StP 223 von einer ordnungsgemäßen Ladung des Angeklagten auszugehen, und zwar einschließlich des Hinweises auf eine Verhaftung als mögliche Folge eines unentschuldigten Fernbleibens.
Jedoch ist eine Verhaftung nach §§ 329 Abs. 4, 230 StPO mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht mehr zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Erwartung gerechtf...