Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftbefehl. Vollziehung. Außerkrafttreten. Zeitablauf. Konkretisierung. Änderung Beschwerdeverfahren. Antrag Staatsanwaltschaft
Leitsatz (amtlich)
1. Das Gesetz sieht in § 115 Abs. 1 StPO eine ausdrückliche wie effektive Wahrung der grundgesetzlich geschützten Rechtsposition des Beschuldigten bei längerer Zeitdauer zwischen Anordnung und Vollstreckung von Untersuchungshaft vor.
2. Durch die unverzügliche Vorführung des festgenommenen Beschuldigten vor den zuständigen Haftrichter ist gewährleistet, dass diesem die abschließende Entscheidungshoheit zur Überprüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen zur Anordnung der Untersuchungshaft vorbehalten bleibt.
3. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über die Unzulässigkeit der Vollziehung bzw. das Außerkrafttreten von Durchsuchungsbeschlüssen nach einem bestimmten Zeitablauf seit ihrem Erlass kann deshalb auf Haftbefehle nicht übertragen werden.
4. Die im (Haft-) Beschwerdeverfahren nachträglich erfolgte Konkretisierung verschiedener neuer, den Beschuldigten zur Last gelegter Betrugsstraftaten durch die (General-) Staatsanwaltschaft kann vor Erhebung der öffentlichen Klage im Beschwerdeverfahren nur berücksichtigt werden, wenn die Staatsanwaltschaft zuvor gem. § 125 Abs. 1 StPO den Erlass eines entsprechenden neuen bzw. abgeänderten Haftbefehls beantragt, der den Anforderungen des § 114 Abs. 2 StPO genügt.
Verfahrensgang
LG Bielefeld (Entscheidung vom 09.01.2014; Aktenzeichen 9 Qs 203-204/15) |
Tenor
Die weitere (Haft-)Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass die Haftbefehle des Amtsgerichts Bielefeld vom 9. Januar 2014 aufgehoben werden.
Die notwendigen Auslagen der Beschuldigten trägt die Landeskasse.
Gründe
I.
Die Beschuldigten befanden sich aufgrund der Haftbefehle des Amtsgerichts Bielefeld vom 9. Januar 2014 (9 Gs 15/14 und 9 Gs 39/14) in der Zeit vom 22. April 2015 bis zum 21. Mai 2015 in Untersuchungshaft. Ausweislich der Haftbefehle liegt den Beschuldigten gemeinschaftlicher Betrug, wobei sie einen Vermögensverlust großen Ausmaßes herbeigeführt haben sollen, in mindestens 3 Fällen sowie Subventionsbetrug in mindestens 2 Fällen zur Last (Vergehen strafbar gemäß §§ 263 Abs. 1, Abs. 3 S. 2 Nr. 2, 264 Abs. 1, 25 Abs. 2, 53 StGB).
Danach sollen in den Konzernbilanzen der Firma I AG in den Jahren 2005 bis 2012 in erheblichem Umfang betragsmäßig unzutreffende Vermögenspositionen enthalten gewesen seien. Es sei davon auszugehen, dass die Beschuldigten, in ihrer Eigenschaft als verantwortlich Handelnde der Firma I AG, in Kenntnis dieser Fehlerhaftigkeit und unter Vorlage dieser Bilanzen im Zusammenhang mit Subventionsanträgen für das Unternehmen I AG bzw. deren Tochterunternehmen in den Jahren 2009 bis 2012 Kredit- und Fördermittel in Millionenhöhe betrügerisch erlangt haben. Das Amtsgericht hat den dringenden Tatverdacht in den beiden Haftbefehlen jeweils gleichlautend wie folgt begründet:
"Der dringende Tatverdacht für das Vorliegen dieser umfangreichen Wirtschaftsstraftaten sowie des maßgeblichen Einflusses des Beschuldigten gründet sich auf von der Steuerfahndung Bielefeld übersandter Unterlagen im Zusammenhang mit anderen Verfahren wegen des Vorwurfes der Steuerhinterziehung, der Auswertung diverser Jahresabschlussunterlagen, insbesondere der I AG (Einzel- und Konzernabschlüsse), der X2 GmbH, der X GmbH und der M GmbH (veröffentlicht im Bundesanzeiger), Internetrecherchen sowie der beigezogenen Akten 44 Js 376/10 StA Münster (X2 GmbH) und 45 Js 149/11 StA Münster (Verschmelzung mit der W AG)."
Wegen der weiteren Einzelheiten wird inhaltlich auf die Haftbefehle des Amtsgerichts Bielefeld vom 9. Januar 2014 Bezug genommen.
Im Rahmen von Durchsuchungsmaßnahmen wurden die beiden Beschuldigten am 22. April 2015 auf der Grundlage der Haftbefehle vom 9. Januar 2014 festgenommen und dem Ermittlungsrichter beim Amtsgericht Bielefeld vorgeführt. Dieser ordnete mit Beschluss vom selben Tag die "Invollzugsetzung" der Haftbefehle an.
Durch Schreiben ihrer Verteidiger vom 4. und 6. Mai 2015 haben die Beschuldigten jeweils (Haft-)Beschwerde eingelegt. Zur Begründung tragen sie - im Wesentlichen zusammengefasst - vor, das Amtsgericht Bielefeld sei für die Anordnung der Untersuchungshaft unzuständig gewesen, es fehle an der erforderlichen Konkretisierung der vorgeworfenen Straftaten hinsichtlich Tatort, Tatzeit, Tathandlung oder Taterfolg, die Fluchtgefahr sei nur unzureichend begründet und die Anordnung der Untersuchungshaft unverhältnismäßig. Weiter wird gerügt, dass der dringende Tatverdacht in den Haftbefehlen durch Verweise auf andere Dokumente und Aktenbestandteile begründet werde, in die jedoch bislang keine Akteneinsicht gewährt worden sei, so dass die Haftbefehle bereits deshalb aufzuheben bzw. unzureichend begründet seien.
Die Ermittlungsrichter beim Amtsgericht Bielefeld haben jeweils durch Verfügung vom 8. Mai 2015 den (Haft-)Beschwerden nicht abgeholfen und die Akten dem Landgericht Bielefe...