Leitsatz (amtlich)
Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Jugendgerichtsverfahren
Verfahrensgang
AG Recklinghausen (Entscheidung vom 19.05.2003) |
Tenor
Das Urteil des Amtsgerichts Recklinghausen vom 21. Mai 2003 wird mit den zu Grunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Recklinghausen zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Recklinghausen hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von neun Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist, verurteilt. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit der form- und fristgerecht eingelegten Sprungrevision. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision gem. § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.
II.
Das Rechtsmittel ist zulässig. Es hat auch in der Sache - zumindest vorläufig - mit der formellen Rüge Erfolg. Der Angeklagte hat zu Recht einen Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO geltend gemacht. Ihm hätte als Heranwachsendem vom Amtsgericht gemäß §§ 68 Nr. 1, 109 JGG, 140 Abs. 2 StPO ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden müssen.
Im Jugendgerichtsverfahren ist dem Heranwachsenden gem. §§ 109 Abs. 1, 68 Nr. 1 JGG ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Bestellung auch für einen Erwachsenen geboten wäre. Darin sieht die allgemeine Meinung eine Verweisung auf die Vorschrift des § 140 StPO (vgl. zuletzt u.a. OLG Hamm, Beschl. v. 14. Mai 2003, 3 Ss 1163/02, NJW 2004, 1338; Spahn StraFo 2004, 82, 83, jeweils mit weiteren Nachweisen; siehe auch Senat im Beschluss vom 9. Februar 2004, 2 Ss 21/04). Danach ist die Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung und die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Die "Schwere der Tat", die sich vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung richtet, gebietet nach wohl überwiegender Meinung in der obergerichtlichen Rechtsprechung und der Auffassung der Literatur (vgl. dazu Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl., 2004, § 140 Rn. 23 ff.; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 3. Aufl., 2003, Rn. 1232 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen) die Beiordnung eines Pflichtverteidigers grundsätzlich dann, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu erwarten ist (so wohl auch OLG Hamm NJW 2004, 1338; siehe aus der Rechtsprechung des Senats u.a. NStZ-RR 1998, 243 = StraFo 1998, 164, 269). Dies gilt im Jugendrecht auf jeden Fall auch. Ob darüber hinaus noch weitere Voraussetzungen vorliegen müssen (so wohl OLG Hamm NJW 2004, 1338) oder ob die Beiordnung eines Pflichtverteidigers sogar schon immer dann erforderlich ist, wenn eine Jugendstrafe droht (so LG Gera StraFo 1998, 270 = StV 1999, 654; Spahn StraFo 2004, 82, 83; Burhoff, a.a.O., Rn. 1234 unter Hinweis auf LG Gera, a.a.O.), braucht vorliegend nicht entschieden zu werden. Der Senat merkt insoweit nur an, dass manches für die zuletzt genannte Auffassung spricht, da - anders als im Erwachsenenrecht - Jugendstrafe immer im Mindestmaß von sechs Monaten verhängt werden muss und damit dem Jugendlichen, wenn Jugendstrafe droht, grundsätzlich eine schärfere Sanktion droht als einem Erwachsenen nach den §§ 40 ff. StGB. Andererseits werden durch das Aufstellen weiterer Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers (so OLG Hamm, a.a.O.) die Anforderungen an die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Jugendstrafverfahren gegenüber denen im Erwachsenenrecht verschärft.
Die Frage kann vorliegend offen bleiben, weil das Amtsgericht neben der drohenden Freiheits-Jugendstrafe weitere Umstände hätte berücksichtigen müssen, die in Zusammenhang mit der Strafhöhe die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich machten. Der Senat hat schon mehrfach betont (vgl. OLG Hamm NStZ-RR 1998, 243 = StraFo 1998, 164, 269 und außerdem z.B. auch noch VRS 100, 307 = StV 2002, 237 Ls. ), dass die Strafgrenze von einem Jahr keine starre Grenze ist, sondern auch sonstige Umstände zu berücksichtigen sind, die in Zusammenhang mit der verhängten und/oder drohenden Strafe dazu führen können, dass die Mitwirkung eines Verteidigers auch bei einer niedrigeren Strafe geboten erscheint. Zwar ist das in der Rechtsprechung - für das Erwachsenenrecht - im Wesentlichen bisher entschieden worden für die Frage der Berücksichtigung eines auf Grund der nun zu verhängenden Strafe drohenden Widerrufs von Strafaussetzung zur Bewährung (vgl. u.a. OLG Hamm VRS 100, 307 und die Nachweise bei Burhoff, a.a.O., Rn. 1233). Darüber hinaus sind aber auch schon andere Umstände anerkannt worden (vgl. Burhoff, a.a.O., Rn. 1233 und 1235). Dem schließt sich der Senat, insbesondere auch für das Jugendrecht an (vgl. auch den Beschluss des Senats vo...