Leitsatz (amtlich)

Die Frage, ob ein ein außer Vollzug gesetzter Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt werden kann, erfordert die Abwägung und Beurteilung sämtlicher Umstände. Dabei kommt der Höhe einer inzwischen verhängten Strafe erhebliche Bedeutung zu, sie allein wird aber für die Wiederinvollzugsetzung nicht ausreichen.

 

Verfahrensgang

LG Bochum (Entscheidung vom 14.11.2002)

 

Tenor

Der Beschluss des Landgerichts Bochum vom 14. November 2002 wird aufgehoben.

 

Gründe

I.

Dem Angeklagten werden in diesem Verfahren mehrere Vergewaltigungstaten vorgeworfen. Das Amtsgericht Bochum erließ deshalb gegen ihn am 13.November 2001 wegen vier selbständiger Vergewaltigungen Haftbefehl. Die Staatsanwaltschaft Bochum erhob unter dem 30.August 2002 wegen sechs in der Zeit vom Februar 1997 bis August 2001 begangener Vergewaltigungen Anklage bei der großen Strafkammer. Diese hat die Anklage mit Beschluss vom 1.Oktober 2002 unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Die Hauptverhandlung hat dann am 4., 6., 12. und 14.November 2002 stattgefunden. Die Strafkammer hat den Angeklagten am 14.November 2002 wegen vier Vergewaltigungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Ein Freispruch wegen der beiden übrigen Taten erfolgte nicht. Aus dem dem Senat nur vorliegenden Aktenauszug erschließt sich auch nicht, wie die Strafkammer mit diesen ggf. sonst verfahren ist. Der Angeklagte, der die Taten bestreitet, hat Revision gegen das Urteil der Strafkammer eingelegt.

Zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftbefehls befand sich der Angeklagte in Urlaub. Er ist nach Erlass des Haftbefehls sofort in die Bundesrepublik Deutschland zurückgekehrt, um sich den Polizeibehörden zu stellen. Bei seiner Einreise ist er nicht verhaftet worden. Er wollte sich anschließend dann den Ermittlungsbehörden stellen, wurde von diesen jedoch unter Angabe eines Vernehmungstermins wieder nach Hause geschickt. Noch bevor der Angeklagte zu diesem Termin erscheinen konnte, wurde er dann am 26. November 2001 festgenommen. Der Angeklagte befand sich zunächst bis zum 27. Dezember 2002 in Untersuchungshaft. An diesem Tag wurde er vom Amtsgericht Bochum unter Auflagen vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft verschont.

Der Angeklagte hat an sämtlichen Hauptverhandlungsterminen teilgenommen. Die Strafkammer hat den Haftbefehl des Amtsgerichts Bochum vom 13. November 2001 erst wieder nach Verkündung des Urteils am 14. November 2002 in Vollzug gesetzt. Seitdem befindet sich der Angeklagte erneut in Untersuchungshaft.

Der Angeklagte ist in der Türkei geboren, lebt aber seit 30 Jahren in Witten. Er ist inzwischen deutscher Staatsangehöriger. Er ist zum zweiten Mal verheiratet. Das Besuchsrecht zu seinen Kindern aus der ersten Ehe nimmt er regelmäßig wahr. Seit 1995 ist der Angeklagte aus gesundheitlichen Gründen arbeitslos.

Die Haftbeschwerde des Angeklagten, der die Strafkammer nicht abgeholfen hat, richtet sich gegen die Invollzugsetzung des Haftbefehls. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen.

II.

1.

Der Beschluss des Landgerichts Bochum vom 14. November 2002 war aufzuheben, da die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO nicht vorliegen und damit die Invollzugsetzung des Haftbefehls durch die Strafkammer nicht gerechtfertigt war.

a)

Nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO kann ein außer Vollzug gesetzter Haftbefehl u. a. dann wieder in Vollzug gesetzt werden, wenn neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung des Beschuldigten erforderlich machen. In Rechtsprechung und Literatur ist anerkannt, dass in diesem Zusammenhang dem Umstand, dass der Angeklagte zu einer höheren Strafe als von ihm erwartet verurteilt worden ist, erhebliche Bedeutung zukommt (vgl. nur aus der Rechtsprechung der jüngeren Zeit OLG Koblenz StraFo 1999, 322, OLG Brandenburg StraFo 2001, 32; OLG Düsseldorf StV 2002, 207, Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl. , 2003, § 116 Rn. 28 mit weiteren Nachweisen). Allerdings wird in der Regel allein die Höhe der erkannten Strafe für eine (Wieder-)Invollzugsetzung des Haftbefehls nicht ausreichen (so wohl auch OLG Düsseldorf, a. a. O. ; siehe auch Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 3. Aufl. , 2003, Rn. 278). § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO dient nämlich dazu, eine Haftaussetzungsentscheidung dann wieder aufheben zu können, "wenn neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen". Ob das der Fall ist, erfordert nach Überzeugung des Senats aber - ebenso wie bei der Beurteilung der Frage, ob überhaupt Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gegeben ist (vgl. dazu u. a. Senat in NStZ-RR 2000, 188 = StraFo 2000, 203 = StV 2001, 115 mit insoweit zustimmender Anmerkung von Deckers), - die Abwägung und Beurteilung sämtlicher Umstände. Ergibt diese Abwägung, dass die Gründe, die zum Erlass des Haftverschonungsbeschlusses geführt haben, in einem wesentlichen Punkt erschüttert worden sind, so dass deshalb der Haftrichter seine Aussetzungsentscheidung nicht getroffen...

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