Leitsatz (amtlich)
Eine hohe Straferwartung allein kann die Fluchtgefahr im Sinn des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO nicht begründen. Vielmehr sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Dazu gehört neben der Erwartung des Beschuldigten auch die des den Haftbefehl erlassenden (Haft)Richters.
Tenor
Der Vollzug des Haftbefehls der 3. großen Strafkammer des Landgerichts Bochum vom 20. August 1999 - 3 KLs 36 Js 491/98 - wird unter folgenden Auflagen außer Vollzug gesetzt:
1. Der Angeschuldigte hat eine Sicherheitsleistung in Höhe von 10. 000 DM zu erbringen; die Sicherheit kann in Form einer Bankbürgschaft erbracht werden.
2. Der Angeschuldigte hat Wohnung zu nehmen unter der in der Anklageschrift genannten Anschrift S straße, W. ,
3. Er hat seinen Reisepass sowie seinen Bundespersonalausweis bei der Staatsanwaltschaft Bochum zu hinterlegen.
4. Er hat sämtlichen gerichtlichen Aufforderungen und Ladungen Folge zu leisten.
5. Er hat sich zweimal in der Woche bei der für seinen Wohnsitz zuständigen Polizeidienststelle zu melden.
Im übrigen wird die Beschwerde verworfen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Angeschuldigte zu tragen. Jedoch wird die Gebühr um die Hälfte ermäßigt; in diesem Umfang hat die Landeskasse die dem Beschuldigten entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
I.
Dem Angeschuldigten wird mit der Anklage der Staatsanwaltschaft Bochum vom 9. August 1999 vorgeworfen, in der Zeit von März 1994 bis Juli 1995 in drei Fällen seine am 2. März 1986 geborene Tochter Bianca sexuell missbraucht und in weiteren drei Fällen roh misshandelt zu haben. Das Verfahren gegen den Angeschuldigten wurde eingeleitet aufgrund einer Strafanzeige der Tochter Bianca vom 26. August 1998. Nach Anzeigeerstattung wurden die Mutter der Geschädigten/die geschiedene Ehefrau des Angeschuldigten und die Tochter polizeilich vernommen. Der Angeschuldigte selbst wurde ebenfalls zur polizeilichen Vernehmung geladen. Er hat dieser Ladung Folge geleistet, Angaben zur Sache jedoch nicht gemacht, sondern nur Unterlagen aus dem Scheidungsverfahren zu den Akten gegeben. Die Tochter des Angeschuldigten ist inzwischen auf ihre Glaubwürdigkeit untersucht worden. Die Sachverständige ist zum Ergebnis gekommen, dass die Angaben der Tochter glaubhaft sind. Die Staatsanwaltschaft hat daraufhin Anklage wegen Verstoßes gegen die §§ 176 Abs. 1 und 3 a. F. , 223 b a. F. , 52, 53 StGB erhoben und Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeschuldigten beantragt.
Die Strafkammer hat am 20. August 1999 Untersuchungshaft angeordnet. Als Haftgrund hat sie Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO angenommen und diese im wesentlichen damit begründet, dass der Angeschuldigte wegen der ihm zur Last gelegten Taten mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen habe Er sei in der Vergangenheit bereits zweimal zu Freiheitsstrafen verurteilt worden, die ihm vorgeworfenen Taten habe er während einer noch laufenden Bewährungszeit begangen. Der Angeschuldigte verfüge auch nicht über hinreichende soziale Bindungen, da er geschieden sei.
Der Angeschuldigte ist aufgrund des Haftbefehls am 7. Oktober 1999 festgenommen worden, seitdem befindet er sich in Untersuchungshaft. Die Strafkammer beabsichtigt, noch im Februar 2000 die Hauptverhandlung stattfinden zu lassen.
Unter dem 17. Dezember 1999 hat der Angeschuldigte mündliche Haftprüfung beantragt. Im Haftprüfungstermin vom 28. Dezember 1999 hat er die Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung gegen Kaution beantragt. Diesen Antrag hat die Strafkammer durch Beschluss vom 28. Dezember 1999 zurückgewiesen. Hiergegen wendet der Angeschuldigte sich nunmehr mit seiner Haftbeschwerde. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel zu verwerfen.
II.
Die (Haft-)Beschwerde ist gemäß § 304 StPO zulässig und hat auch in der Sache teilweise Erfolg. Der Haftbefehl war nämlich gemäß § 116 StPO gegen Auflagen außer Vollzug zu setzen.
1.
Entgegen der Auffassung des Angeschuldigten ist "dringender Tatverdacht" im Sinn des § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO zu bejahen. Nach übereinstimmender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur besteht dringender Tatverdacht, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass ein Beschuldigter/Angeschuldigter Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl. , 1999, § 112 Rn. 5 mit weiteren Nachweisen), wobei es ausreicht, wenn aufgrund des sich aus den Akten ergebenden Ermittlungsergebnisses die Möglichkeit der Verurteilung besteht. Von dieser Möglichkeit ist vorliegend jedoch auszugehen. Der Angeschuldigte wird hinsichtlich der ihm zur Last gelegten Taten durch seine Tochter und seine geschiedene Ehefrau belastet. Der Senat übersieht insoweit nicht, dass ein Missbrauchsvorwurf auch schon Gegenstand des Ehescheidungs- und Sorgerechtsverfahrens war. Er übersieht auch nicht, dass die Tochter sich schon im Sommer 1996 ihrer Mutter offenbart haben will, die Anzeigeerstattung jedoch dann erst Ende August 1998 erfolgte. Diese Umstände sind a...