Entscheidungsstichwort (Thema)

Rückwirkende Änderung der Vollstreckungsreihenfolge. lebenslange Freiheitsstrafe. mehrere Freiheitsstrafen

 

Leitsatz (amtlich)

1. § 43 Abs. 3 StVollstrO beinhaltet eine Ausnahme von der in § 43 Abs. 2 StVollstrO geregelten Vollstreckungsreihenfolge nur für den Fall, dass während der bereits laufenden Vollstreckung einer Freiheitsstrafe eine weitere - nach § 43 Abs. 2 StVollstrO vorrangig zu vollstreckende - Freiheitsstrafe hinzutritt.

2. Unbeschadet der Frage, ob die Vorschrift des § 43 Abs. 3 StVollstrO überhaupt auf den Vollzug lebenslanger Freiheitsstrafen anwendbar ist, hat diese zumindest für die Reihenfolge der (weiteren) Vollstreckung mehrerer Freiheitsstrafen nach Herstellung des frühestmöglichen Zeitpunkts für eine gemeinsame Aussetzung der Vollstreckung aller Strafen (hier bei Zusammentreffen einer lebenslangen Freiheitsstrafe nach Erreichen der Mindestverbüßungsdauer und einer zeitigen bis zum 2/3-Zeitpunkt vollzogenen Freiheitsstrafe) keine Bedeutung mehr.

3. Auch über den Anwendungsbereich des § 454b Abs. 2 S. 3 StPO hinaus sind rückwirkende Eingriffe in die Vollstreckungsreihenfolge zur Vermeidung von Benachteiligungen eines Verurteilten durch vorangegangene Fehler oder Versäumnisse der Vollstreckungsbehörden möglich.

 

Normenkette

EGGVG §§ 23 ff.; StPO § 454b; StVollstrO § 43 Abs. 2-4

 

Tenor

Die angefochtenen Bescheide werden aufgehoben. Die Staatsanwaltschaft Aachen hat den Antrag des Betroffenen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden.

Das Verfahren ist gerichtsgebührenfrei. Die Landeskasse trägt die dem Betroffenen zur Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Auslagen.

Der Geschäftswert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

 

Gründe

I.

Am 31. Oktober 1997 verurteilte das Landgericht - Schwurgericht - Aachen den Betroffenen wegen Mordes und Totschlags zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe und stellte die besondere Schwere der Schuld fest. Während der Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe wurde der Betroffene am 13. Januar 2009 durch das Landgericht Aachen wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Anstiftung zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt, von der ein Drittel als verbüßt gilt. Durch Beschluss vom 25. September 2013 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kleve die Mindestverbüßungsdauer der lebenslangen Freiheitsstrafe auf 17 Jahre festgesetzt.

Die (bisherige) Vollstreckungsreihenfolge der beiden Freiheitsstrafen stellt sich wie folgt dar:

- bis zum 15. Juni 2011: Vollstreckung der gesetzlichen Mindestverbüßungsdauer (15 Jahre) der lebenslangen Freiheitsstrafe;

- 16. Juni 2011 bis 14. Februar 2014: Vollstreckung der zeitigen Freiheitsstrafe bis zum Erreichen des Zweidrittelzeitpunkts;

- 15. Februar 2014 bis 15. Februar 2016: Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe bis zum Erreichen der festgesetzten Mindestverbüßungsdauer von 17 Jahren;

- seit dem 16. Februar 2016 wird die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe fortgesetzt.

Mit Schreiben seines Verfahrensbevollmächtigen vom 03. August 2020 beantragte der Betroffene unter Hinweis auf § 43 Abs. 2 Nr. 1 StVollstrO, die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe rückwirkend zum 15. Februar 2016 zugunsten der zeitigen Freiheitsstrafe zu unterbrechen und diese nach ihrer dann am 15. Oktober 2018 vollständigen Verbüßung für erledigt zu erklären.

Die Staatsanwaltschaft Aachen lehnte dies mit Entscheidungen vom 01. Oktober 2020 und 28. April 2021 ab und führte zur Begründung aus, die zeitige Freiheitsstrafe könne nicht zu Ende vollstreckt werden, da laut Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 25. September 2013 die Mindestverbüßungsdauer der lebenslangen Freiheitsstrafe 17 Jahre betrage, die seit dem 14. Februar 2016 verbüßt seien. Habe die Vollstreckung einer zeitigen Freiheitsstrafe begonnen, so sei sie gem. § 43 Abs. 3 StVollstrO fortzusetzen. Eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge mit der Begründung "kurz vor lang" sei nicht nachvollziehbar, da beide Strafen bis zum jeweiligen Aussetzungszeitpunkt vollstreckt worden seien. "Die Unterbrechung der Freiheitsstrafe könne nur für eine zunächst zu vollstreckende Freiheitsstrafe (Freiheitsstrafe mit einem noch zu prüfenden Aussetzungszeitpunkt) erfolgen." Das sei hier eindeutig nicht der Fall.

Die hiergegen gerichteten Einwendungen des Betroffenen wurden durch die Generalstaatsanwaltschaft Köln mit Bescheid vom 18. Oktober 2021 als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, nach § 43 Abs. 4 StVollstrO könne die Vollstreckungsbehörde aus wichtigem Grund eine von der Regelung des § 454b StPO abweichende Vollstreckungsreihenfolge bestimmen. Wichtige Gründe seien im Fall des Betroffenen jedoch nicht festzustellen und von ihm auch nicht vorgebracht. Im Übrigen sei der Betroffene durch eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge auch nicht ...

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