Leitsatz (amtlich)

Eine auf einem innerstädtischen Gehweg in Gehrichtung verlaufende scharfkantige Aussparung mit einer Tiefe von bis zu 3,2 cm kann eine abhilfebedürftige Gefahrenstelle sein, u. a. weil Fußgänger beim Betreten der Kante mit dem Fuß seitlich umknicken und sich dadurch verletzen können. Wenn die Stelle für einen Fußgänger, der durch sie gestürzt ist, bei der Einhaltung der von ihm zu fordernden Eigensorgfalt als Gefahrenstelle erkennbar war, begründet dies in der Regel sein Mitverschulden. Eine Einschränkung der Verkehrssicherungspflicht für scharfkantige Höhenunterschiede im Gehwegbereich allein wegen ihrer Erkennbarkeit kommt allenfalls für außergewöhnlich hohe Niveauunterschiede in Betracht, die schon mit beiläufigem Blick als für die Gehsicherheit gefährliche Unebenheit erkannt werden können.

 

Normenkette

BGB § 839; GG Art. 34; StrWG NRW §§ 9, 9a 47

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 13.04.2022 verkündete Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Arnsberg teilweise abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin Schadensersatz in Höhe von 608,09 EUR sowie ein Schmerzensgeld in Höhe von 4.500,- EUR, jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 12.01.2021 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin jegliche Schäden, die ihr in Zukunft aus dem Unfallgeschehen vom 28.10.2019 in N. entstehen werden, zu 50 % zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.

Die Kosten des Rechtsstreits tragen zu 77 % die Klägerin und zu 23 % die Beklagte.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

I. (ohne Tatbestand gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO)

II. Die zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache nur teilweise Erfolg. Der Klägerin steht wegen des von ihr am 28.10.2019 in N. auf dem Gehweg der B.-straße erlittenen Sturzes aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG sowie §§ 9, 9a, 47 Abs. 1 StrWG NW gegen die Beklagte ein Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 608,09 EUR sowie eines Schmerzensgeldes in Höhe von 4.500,- EUR zu. Darüber hinaus ist die Beklagte verpflichtet, der Klägerin 50 % aller weiteren ihr zukünftig aus dem Unfallgeschehen entstehenden Schäden zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen. Im Einzelnen:

1. Der Beklagte hat zum Unfallzeitpunkt für den neben dem Gebäude des Z.-Marktes gelegenen, entlang der B.-straße verlaufenden Gehweg, auf dem sich nach den vom Senat getroffenen Feststellungen am 28.10.2019 der Sturz der Klägerin ereignet hat, die Verkehrssicherungspflicht oblegen. Bei der B.-straße handelt es sich um eine im Gemeindegebiet der Beklagten gelegene, dem öffentlichen Verkehr gewidmete Gemeindestraße, wobei gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 b) StrWG NW auch der Gehweg zur öffentlichen Straße gehört. Als Träger der Straßenbaulast für Gemeindestraße (§ 47 Abs. 1 StrWG NW) ist die Beklagte damit gemäß § 9, 9a StrWG NW verpflichtet gewesen, den Gehweg in einem verkehrssicheren Zustand zu unterhalten, wobei ihr diese Pflicht gemäß § 9a Abs. 1 S. 2 StrWG NW als hoheitliche Aufgabe oblag. Dass die Beklagte die Verkehrssicherungspflicht für den Gehweg zum Unfallzeitpunkt auf die Firma U. GmbH & Co. KG, welcher den Gehweg erst zuvor neu hergestellt hatte, übertragen hatte, ist weder von der Beklagten geltend gemacht worden, noch sonst ersichtlich.

2. Die Beklagte hat ihre Verkehrssicherungspflicht für den Gehweg dadurch in schuldhafter Weise verletzt, dass sie den Fußgängerverkehr nicht in geeigneter Weise von den Gefahren geschützt hat, die von der Aussparung in dem Gehwegpflaster ausgingen, die am 08.11.2021 vom Landgericht ausgemessen wurde und entgegen dessen Beurteilung zum Unfallzeitpunkt eine abhilfebedürftige Gefahrenstelle darstellte.

Nach den vom Landgericht am 26.10.2021 vorgenommenen Messungen, deren Richtigkeit von keiner der beiden Parteien in der Berufungsinstanz in Frage gestellt wird, hat die letzte vor dem Farbwechsel des Gehwegbelages von Grau auf Rötlich gelegene Aussparung an zwei ihrer vier Seiten eine größere Tiefe als 2,5 cm aufgewiesen. An der parallel zum Gehweg verlaufenden und zu dessen Seite hin gelegenen Seite hat die Aussparung an ihrem einen Ende eine Tiefe von 2,8 bis 2,9 cm und an ihrem anderen Ende eine Tiefe von 3,1 bis 3,2 cm gehabt. Des Weiteren hat die Aussparung auch nach den Angaben der Beklagten eine Breite und Länge von knapp 20 cm × 20 cm gehabt.

Eine parallel zum Gehweg verlaufende scharfkantige Vertiefung von dieser Größe und Tiefe stellt eine abhilfebedürftige Gefahrenstelle dar. Denn die Vertiefung ist so lang und breit, dass ein Kind, aber auch eine erwachsene Personen mit dem überwiegenden Teil des Fußes auf die parallel zum Gehweg verlaufenden Kante der Aussparung treten und wegen ihrer Tiefe von bis zu 3,1 bis 3,2 cm mit dem Fuß seitlich umknicken und sich dadurch schwerwiegend verletzen kan...

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