Leitsatz (amtlich)
Ist ein bei Bauarbeiten entstandener Kabelgraben in einem asphaltierten Gehweg lediglich mit Sand und Schotter verfüllt worden und hat sich im verfüllten Bereich eine in Gehrichtung verlaufende 4 cm hohe Kante gebildet, kann dies eine abhilfebedürftige Gefahrenstelle darstellen. Ist der Bereich nach Abschluss der Bauarbeiten nicht durch Schilder oder Warnhinweise gekennzeichnet, muss ein Fußgänger regelmäßig nicht davon ausgehen, dass er einen Baustellenbereich mit einem erhöhten Gefahrenpotential betritt. Ist dem Verkehrssicherungspflichtigen bekannt, dass sich in dem Bereich durch Witterungseinflüsse innerhalb kurzer Zeit Unebenheiten entwickeln können, ist er gehalten, die Stelle in kurzen zeitlichen Intervallen zu kontrollieren oder andere zumutbare Maßnahmen - wie z.B. ein Verfüllen mit Kaltasphalt - zu ergreifen, die das kurzfristige Entstehen einer Gefahrenstelle verhindern oder vor ihr warnen.
Normenkette
BGB §§ 249, 253, 839; GG Art. 34; StrWG NRW §§ 2, 9, 9a, 47
Verfahrensgang
LG Bielefeld (Aktenzeichen 6 O 131/19) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 23.09.2019 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 6. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld teilweise abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 600,- EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 08.11.2018 sowie 147,56 EUR zu zahlen.
Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 40 % und die Beklagte zu 60 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
(ohne Tatbestand gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 ZPO)
I. Die zulässige Berufung der Klägerin ist nur teilweise begründet.
1. Der Klägerin steht aufgrund des Unfallgeschehens vom 22.10.2018 gegen die Beklagte aus § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG und §§ 9, 9a, 47 StrWG NRW, 253 Abs. 2 BGB unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens von 40 % ein Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes von 600,- EUR zu.
a) Die Beklagte hat die ihr unter anderem gegenüber der Klägerin aus §§ 9, 9 a, 47 StrWG NRW obliegenden Verkehrssicherungspflichten schuldhaft verletzt, indem sie den Fußgängerverkehr nicht in hinreichender Weise vor den Gefahren geschützt hat, die am Unfalltag von dem über den Gehweg zum Kindergarten B in I verlaufenden, lediglich mit Schotter und Sand verfüllten Kabelgraben ausgegangen sind.
aa) Die für die Sicherheit der in ihren Verantwortungsbereich fallenden Verkehrsflächen zuständigen Gebietskörperschaften haben im Rahmen des ihnen Zumutbaren nach Kräften darauf hinzuwirken, dass die Verkehrsteilnehmer in diesen Bereichen nicht zu Schaden kommen. Allerdings muss der Sicherungspflichtige nicht für alle denkbaren, auch entfernten Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorkehrungen treffen. Eine Sicherung, die jeden Unfall ausschließt, ist praktisch nicht erreichbar. Vielmehr sind Vorsorgemaßnahmen nur dann geboten, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die naheliegende Möglichkeit einer Rechtsgutsverletzung anderer ergibt. Dies ist dann zu bejahen, wenn eine Gefahrenquelle trotz Anwendung der von den Verkehrsteilnehmern zu erwartenden eigenen Sorgfalt nicht rechtzeitig erkennbar ist oder diese sich auf die Gefahrenlage nicht rechtzeitig einstellen können. Dabei wird die Grenze zwischen abhilfebedürftigen Gefahren und von den Benutzern hinzunehmenden Erschwernissen ganz maßgeblich durch die sich im Rahmen des Vernünftigen haltenden Sicherheitserwartungen des Verkehrs bestimmt, die sich wesentlich an dem äußeren Erscheinungsbild der Verkehrsfläche und deren Verkehrsbedeutung orientieren (OLG Hamm, Urteil vom 24.03.2015, I-9 U 114/14 - Rz. 18 m.w.Nw.).
Was die Beherrschbarkeit von Bodenunebenheiten für Fußgänger angeht, so werden nach gefestigter Rechtsprechung, der auch der Senat folgt, selbst scharfkantig gegeneinander abgesetzte Niveauunterschiede auf asphaltierten, plattierten oder gepflasterten Gehwegen bis zu 2 cm für Fußgänger grundsätzlich als beherrschbar angesehen. Erst darüber hinaus beginnt ein Bereich, in dem Unebenheiten für Fußgänger nicht mehr in jedem Fall hingenommen werden müssen. Dabei stellt der genannte Höhenunterschied von 2 cm indes keine starre Grenze dar, ab der schematisch eine Verpflichtung des Verkehrssicherungspflichtigen zur Gefahrbeseitigung anzunehmen ist. Vielmehr ist in diesen Fällen auf die jeweilige vernünftige Erwartungshaltung der Verkehrsteilnehmer in der konkreten Örtlichkeit unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls abzustellen, wobei dem Gesamteindruck, den die Verkehrsfläche dem Benutzer bietet und aus dem dieser seine Erwartungshaltung vernünftigerweise zu einem wesentlichen Teil herleitet, sowie der Verkehrsbedeutung wesentliche Bedeutung zukommt (OLG Hamm, Urteil vom 25.50.2004, 9 U 43/04, NJW-RR 2005, 255, 256). Von gleichem Gewicht ist das Maß der Ablenkung der Fußgänger, also die Frage, ob der Fußgänger seine Aufmerksamkeit nahezu eingeschränkt der Geh...