Leitsatz (amtlich)
Wird bei einer jugendlichen Patientin (15 Jahre) die Ursache eines erhöhten Blutdrucks (160/100) nicht abgeklärt, ist der Hausärztin ein Befunderhebungsfehler zur Last zu legen. Kommen weitere Alarmzeichen -mehrfache Bewusstlosigkeiten- hinzu, ist die mangelnde Befunderhebung als grober Behandlungsfehler der Hausärztin zu werten. Für den Verlust beider Nieren, der Dialysepflicht und 53 Folgeoperationen -darunter erfolglose Nierentransplantation- ist bei einer jugendlichen Patientin ein Schmerzensgeld von 200.000,- EUR angemessen.
Normenkette
BGB §§ 280, 823, 249, 253
Verfahrensgang
LG Bielefeld (Urteil vom 09.05.2014; Aktenzeichen 4 O 377/10) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 09.5.2014 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des LG Bielefeld abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 200.000 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 12.6.2010 zu zahlen; an die Klägerin 3.015,70 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 12.6.2010 für vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche weiteren zukünftigen materiellen Schäden zu ersetzen, welche ihr aus der fehlerhaften Behandlung in der Praxis der Beklagten in der Zeit von September 2001 bis März 2002 entstanden sind und noch entstehen werden sowie die zukünftigen, derzeit nicht absehbaren immateriellen Schäden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialleistungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
Die Kosten des Rechtsstreits werden der Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen einer vermeintlich fehlerhaften ärztlichen Behandlung (Verkennung einer Schrumpfniere) auf Schmerzensgeldzahlung sowie Feststellung zukünftiger Ersatzpflicht in Anspruch.
Die am ... 1986 geborene Klägerin befand sich im Zeitraum von März 1995 bis zum 25.3.2002 in regelmäßiger hausärztlicher Behandlung der Beklagten.
In den letzten zwei Jahren der Behandlungszeit stellte sich die Klägerin häufiger mit verschiedenen Beschwerden in der Praxis der Beklagten vor. So stellte sie sich seit Anfang/Mitte 2001 mit Kopfschmerzen, wiederkehrendem starken Husten, Schlafproblemen sowie einer Schwellung im Fuß vor. Die Beklagte führte im März 2001 eine Blutdruckmessung bei der Klägerin durch, die einen Blutdruck von 125/80 mmHg ergab. Seit September 2001 wurde wiederholt eine Hypertonie festgestellt. Bei der Klägerin bestand zu diesem Zeitpunkt zudem eine krankhafte Fettsucht mit einem Body-Mass-Index von 37 und ein Nikotinabusus.
Am 11.9.2001 wurde bei ihr ein hypertensiver Blutdruck mit 160/100 mmHG gemessen. Eine von der Beklagten am Folgetag vorgenommene Blutdruckmessung ergab einen Blutdruck von 145/90 mmHG. Der anwesenden Mutter der Klägerin wurde erklärt, dass eine Blutdruckkontrolle notwendig sei und es wurde eine Wiedervorstellung für die darauf folgende Woche vereinbart. Die Klägerin stellte sich jedoch erst am 24.10.2001 wieder bei der Beklagten vor.
Am 12.11.2001 stellte sich die Klägerin erneut in der Praxis der Beklagten vor. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie aufgrund von Kreislaufproblemen viermal bewusstlos geworden. Die Klägerin teilte der Beklagten zugleich mit, dass sie sich bei anderen Ärzten wegen vorgenannter Kreislaufprobleme nicht vorgestellt habe. Die Beklagte stellte der Klägerin daraufhin eine Überweisung zum Internisten bzw. Kardiologen zur weiteren Diagnostik einer sekundären Hypertonie aus und bot der Klägerin weitere regelmäßige Blutdruckkontrollen in den Abendstunden an, die von der Klägerin jedoch nicht wahrgenommen wurden.
Am 19.11.2001 erschien die Klägerin wegen einer Entzündung im Mund (stomatitis aphtosa) bei der Beklagten. Über die Entzündung hinausgehende Beschwerden wurden nicht mitgeteilt. Am 12.12.2001 nahm die Klägerin einen Impftermin in der Praxis der Beklagten wahr. Beschwerden teilte sie der Beklagten nicht mit.
Am 5.2.2002 suchte die Klägerin erstmalig seit dem 12.12.2001 die Praxis der Beklagten auf. Sie gab an, am Abend zuvor seien bei ihr Schwindel und Nasenbluten aufgetreten. Am Naseneingang befand sich an typischer Stelle eine klinisch alte Plexusblutung. Es wurde erneut eine Blutdruck-Entgleisung bei der Klägerin mit einem Blutdruck von 160/100 mmHg festgestellt. Auf Nachfrage teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass sie noch keinen Termin bei einem Internisten vereinbart habe. Auf dringende Mahnung der Beklagten versprach die Klägerin, dies umgehend zu tun.
Am 21.2.2002 erfuhr die Beklagte, dass die Klägerin einen Termin bei einem Internisten für den 3.4.2002 vereinbart hatte.
Letztmalig wurde bei der Klägerin von der Bekl...