Leitsatz (amtlich)

Die unterlassene Blutzuckerbestimmung in einer lebensbedrohlichen Situation am ersten Lebenstag eines Kindes kann als grober Behandlungsfehler zu werten sein.

Die Verantwortung für solch einen groben Behandlungsfehler am ersten Tag nach der Geburt kann auch den Gynäkologen, der als Belegarzt tätig ist, treffen.

Bei einer lebensbedrohlichen Situation eines Säuglings ist die Blutzuckerbestimmung eine absolute Standardmaßnahme.

Bei einer schweren geistigen und körperlichen Beeinträchtigung eines Kindes, die niemals ermöglicht, ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, kann ein Schmerzensgeld von 500.000,- EUR angemessen sein.

 

Normenkette

BGB §§ 253, 280, 823

 

Verfahrensgang

LG Paderborn (Aktenzeichen 3 O 538/10)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 10. Dezember 2015 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des LG Paderborn abgeändert.

1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 500.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15. November 2010 zu zahlen.

2. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle materiellen und zukünftigen immateriellen Schäden, letztere soweit sie derzeit nicht vorhersehbar sind, zu ersetzen hat, die ihr aus Anlass der Behandlung durch den Beklagten vom 31. August/01. September 2006 entstanden sind oder noch entstehen werden, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

3. Der Beklagte wird weiter verurteilt, an die Klägerin 6.286,06 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15. November 2010 zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits - einschließlich der Kosten der Streithelfer der Klägerin - werden dem Beklagten auferlegt. Die Streithelfer des Beklagten tragen ihre Kosten selbst.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Die Klägerin, vertreten durch ihre Eltern nimmt den Beklagten wegen einer vermeintlich fehlerhaften geburtshilflich-gynäkologischen Behandlung im Jahr 2006 auf Schmerzensgeld, Schadensersatz und Feststellung zukünftiger Schadensersatzpflicht in Anspruch.

Der Beklagte, Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, war im streitgegenständlichen Zeitraum zugleich Belegarzt im St. K-Hospital in Bad E, d.h. bei der Streithelferin zu 3).

In der 32. Schwangerschaftswoche wurde bei der Mutter der Klägerin (Zweitgravida) eine Infektion der Scheide mit Streptokokken der Gruppe B (GBE) festgestellt. Eine (peripartale) Antibiotikabehandlung erfolgte jedoch nicht. Nach im Übrigen unauffälligem Schwangerschaftsverlauf stellte der Beklagte am 24.08.2006 und 30.08.2006 bei der Mutter der Klägerin eine Beckenendlage (BEL) fest. Sie wurde über die sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Entbindungsmodus aufgeklärt, wobei der Aufklärungsumfang zwischen den Parteien streitig ist. Am 30.08.2006 unterzeichnete die Mutter der Klägerin einen Aufklärungsbogen, wonach sie über den Chancen und Risiken dieser Entbindungsalternative aufgeklärt worden ist und stellte sich sodann am 31.08.2006 zwecks Durchführung einer Kaiserschnittentbindung im Krankenhaus der Streithelferin zu 3) vor.

Am gleichen Tag wurde die Klägerin um 13:42 Uhr in der 41. SSW durch den Beklagten mittels primärer Sectio entwickelt. Die Anästhesie wurde durch den Zeugen Dr. I durchgeführt, der eine intraoperative Antibiotikagabe verabreichte. Die Entbindung selbst verlief komplikationslos. Im Anschluss an die Entbindung traten kurzzeitig Anpassungsstörungen bei der Klägerin auf, die mit O2 Gabe behoben werden konnten. Die Apgar-Werte wurden mit 7, 9 und 10 angegeben. Das Kind wurde per Monitor im Kreißsaal überwacht, die Werte wurden mit "ohne Befund" dokumentiert. Um 14:12 Uhr wurde eine Blutgasanalyse bei der Klägerin durchgeführt. Auch weitere Untersuchungen ergaben in der Folge keinen Befund. Zwischen 17:31 Uhr und 1:30 Uhr wurde übereinstimmend dokumentiert, dass das Kind schlafe und rosig aussehe. Es wurde laut Krankenblatt gegen 23:00 Uhr in das Kinderzimmer verbracht; eine weitere Kontrolle fand um 0:30 Uhr statt.

Gegen 3:50 Uhr traten Komplikationen auf. In der Dokumentation ist festgehalten, dass die Klägerin schlapp und an Händen und Füßen blau war. Der Beklagte wurde informiert und erschien ebenso umgehend wie der gleichfalls hinzu gerufene Dr. T, der Streithelfer zu 4), in seiner Eigenschaft als Kinderarzt. Letzterer traf laut Patientenakte gegen 4:08 Uhr ein. Die Ärzte führten eine Reanimation durch. Die Klägerin wurde sodann um 5:00 Uhr von dem hinzugerufenen Kindernotarzt Dr. X, dem Streithelfer zu 6), übernommen und in die Kinderklinik des St. W Krankenhauses in Q, Streithelferin zu 5), verlegt. Dort traten in den ersten beiden Stunden ...

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