Leitsatz (amtlich)
1. Zum verkehrsrichtigen Verhalten im Vorfeld einer erkennbaren bzw. bekannten Geschwindigkeitsbegrenzung.
2. Zur Führung des Entlastungsbeweises des § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG obliegt es dem von einem Fußgänger wegen eines Verkehrsunfalls mit einem Kfz in Anspruch genommenen Fahrer, darzulegen und zu beweisen, dass der Fußgänger auch bei einer geringeren Kollisionsgeschwindigkeit des Kfz infolge verkehrsrichtiger moderater Beschleunigung ebenso schwere Verletzungen erlitten hätte.
Normenkette
BGB § 254; StVG §§ 7, 9, 18; StVO § 3 Abs. 1, §§ 25, 41; VVG § 115
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 13.01.2017 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 8. Zivilkammer des Landgerichts Münster - 8 O 380/14 - abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Klageanträge zu 1. auf Zahlung eines Schmerzensgeldes, zu 3. auf Ersatz vermehrter Bedürfnisse, zu 4. auf Ersatz entstandenen Erwerbsschadens und zu 5. auf Ersatz des Minderverdienstes in Form einer Geldrente sind - jeweils nebst Rechtshängigkeitszinsen - dem Grunde nach zu 20% gerechtfertigt.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, dem Kläger weiteren aus dem Unfallgeschehen vom 00.11.2011 auf dem B in 00000 C entstehenden materiellen Schaden zu 20% und den zukünftigen unfallbedingten, derzeit nicht vorhersehbaren immateriellen Schaden unter Berücksichtigung eines klägerischen Eigenverschuldens von 80% zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Dritte, insbesondere Versicherungen oder Sozialversicherungsträger, übergangen sind oder übergehen werden.
Wegen der Entscheidung zur Höhe wird der Rechtsstreit auf Antrag des Klägers an das Landgericht zurückverwiesen, das auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu entscheiden haben wird.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Der Kläger nimmt die Beklagten unter Berücksichtigung einer eigenen Mitverschuldensquote von 80% auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht für weitere zukünftige materielle und immaterielle Schäden aufgrund eines Verkehrsunfallgeschehens vom 00.11.2011 gegen 1.00 Uhr auf dem Bring in C, bei dem der Kläger schwerste Verletzungen erlitt, in Anspruch.
Der zum Unfallzeitpunkt 26 Jahre alte Kläger war zu Fuß auf dem Weg von der nahe gelegenen Gaststätte U zum Schnellrestaurant L. Aus dem Fußweg "Tweg", der auf den Bring mündet, kommend wollte er den Bring überqueren. Der Beklagte zu 1) befuhr mit dem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten und von der V GmbH gehaltenen Pkw H, amtliches Kennzeichen ...-... 00, von dem Schnellrestaurant N kommend zunächst den Rring bis zum Kreisverkehr und sodann den Bring in Fahrtrichtung F. Der Kläger, der zum Unfallzeitpunkt mit einer dunkelbraunen Stoffjacke, einer dunkelblauen Jeans und schwarzen Sportschuhen bekleidet war, trat - aus Sicht des Beklagten zu 1) - von rechts auf die Fahrbahn des Brings und wurde etwa in Höhe des Nummernschildes des PKW H erfasst, auf die Motorhaube aufgeladen und nach Kopfaufprall am Dachholm ca. 28 Meter mitgerissen und schließlich links auf einen Grünstreifen geschleudert. Die genaue Lage des Kollisionsortes ist zwischen den Parteien streitig. Direkt hinter der Einmündung "Tweg" wird die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf dem Bring für die Fahrtrichtung des Beklagten zu 1) per Vorschriftszeichen 274 (Anl. 2 zu § 41 StVO) auf 70 km/h begrenzt.
Infolge der Kollision mit dem Beklagtenfahrzeug erlitt der Kläger schwerste Verletzungen und musste noch an der Unfallstelle vom Notarzt reanimiert werden. Er wurde vom 00.11.2011 bis zum 00.02.2012 stationär im Krankenhaus behandelt und befand sich anschließend bis zum 00.10.2012 in einer Rehabilitationseinrichtung. Dort wurden u.a. eine inkomplette traumatische Querschnittslähmung, eine starke Spastizität, neuropathische Schmerzen und eine neurologische Blasen- und Darm-Funktionsstörung diagnostiziert. Der Kläger ist dauerhaft an den Rollstuhl gebunden. Der Grad der Behinderung beträgt 100%. Seinen Beruf als Steuerfachangestellter kann er nicht mehr ausüben. Bis zum Unfallgeschehen lebte der Kläger im Haus seiner Eltern im Dachgeschoss. Vom 00.10.2012 bis zum 00.03.2013 bewohnte er eine Wohneinheit in einer Seniorenwohnanlage mit Pflegedienst. Ab dem 00.04.2013 lebt er in einer Eigentumswohnung, die behindertengerecht ausgebaut wurde.
Der Kläger begehrt auf der Grundlage einer Haftungsquote von 20% zu Lasten der Beklagten die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeld, das seiner Meinung nach im Bereich von 50.000,- Euro liegen sollte, sowie Ausgleich entstandener vermehrter Bedürfnisse (außergewöhnliche Belastungen u.a. für Therapien und Medikamente, Fahrtkosten, Umbaukosten, behinderungsbedingte Kosten, Fahrt- und Übernachtungskosten, Pflegekosten) in Höhe von 32.511,70 Euro, Ausgleich eines ab 2012 erlittenen Erwerbsschadens in Höhe von 5.253,77 Euro sowie Ausgleich des ab Mai 2014 entstehenden Erwerbsschadens in Form einer monatlichen Geldrente in Höhe von 390,- Euro. ...