Leitsatz (amtlich)
1. Wird zur Verkehrsberuhigung im Hinblick auf eine unfallträchtige Kreuzung eine Bodenwelle (sleeping policeman) errichtet, endet eine ihretwegen angeordnete streckenbezogene Geschwindigkeitsbegrenzung, deren Länge nicht ausdrücklich vorgegeben wird, nach lfd. Nr. 55 Satz 2 Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO dort, wo die Gefahr auch aus Sicht eines Ortsunkundigen vorüber ist, hier aus Fahrrichtung jeweils hinter der Bodenwelle und der gefährlichen Kreuzung, wenn keine weiteren Bodenwellen mehr angezeigt oder ersichtlich sind.
2. Ein Vorfahrtsverstoß des Schädigers an einem Stopp-Schild (§ 8 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 - Zeichen 206 Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO -, Abs. 2 StVO) verdrängt regelmäßig - so auch hier - die allein festzustellende Betriebsgefahr des vorfahrtsberechtigten Kraftfahrzeugs vollständig.
Verfahrensgang
LG Arnsberg (Aktenzeichen I-1 O 25/15) |
Tenor
Das Verfahren ist im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH (VI ZR 211/21) anhängig.
Der auf Ersatz des unfallbedingten immateriellen Schadens (Schmerzensgeld) gerichtete Klageantrag zu 1, der auf Ersatz des unfallbedingten materiellen Schadens in Form des Verdienstausfalls gerichtete Klageantrag zu 2 und der auf Ersatz notwendiger vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten gerichtete Klageantrag zu 3 sind jeweils dem Grunde nach gerechtfertigt.
Im Übrigen wird auf die Berufung der Beklagten das am 15.11.2019 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 1. Zivilkammer des Landgerichts Arnsberg (Az.: I-1 O 25/15) im Wege des Teilendurteils teilweise abgeändert und unter teilweiser Zurückweisung der Berufung der Beklagten wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten bleiben, soweit nicht durch Teilgrundurteil entschieden wurde, auf den auf Ersatz materieller unfallbedingter Schäden gerichteten Klageantrag zu 2 verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger einen Betrag von 10.115,41 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus einem Betrag von 8.665,13 EUR vom 21.02.2015 bis zum 05.08.2015, aus einem Betrag von 8.873,14 EUR vom 06.08.2015 bis zum 14.02.2016 und aus einem Betrag von 10.115,41 EUR seit dem 15.02.2016 zu zahlen.
Es bleibt festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger sämtlichen weiteren materiellen Schaden mit Ausnahme des im Zeitraum von Februar 2016 bis Dezember 2017 einschließlich entstandenen Verdienstausfallschadens und zukünftigen nicht vorhersehbaren immateriellen Schaden aus dem Verkehrsunfall vom 05.09.2014 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergangen sind.
Im Übrigen bleibt bzw. wird die Klage abgewiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung des Klägers durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I. Der am 00.00.1963 geborene Kläger nimmt die Beklagten aufgrund eines Verkehrsunfalls vom 05.09.2014 in A auf Schadenersatz und Schmerzensgeld in Anspruch.
Der Kläger war am 05.09.2014 wegen eines Bandscheibenvorfalls noch, und zwar bereits seit fast 6 Wochen krankgeschrieben; er hätte jedoch ab Sonntag, dem 07.09.2014, seine Tätigkeit als angestellter Berufskraftfahrer jedenfalls zunächst wieder aufgenommen, wäre es nicht zu dem streitgegenständlichen Unfall gekommen.
Dieser ereignete sich innerorts im Kreuzungsbereich B-Straße/C-Straße/D-Weg/E-Straße. Der Kläger näherte sich mit seinem Motorrad, einer Harley-Davidson mit dem amtlichen Kennzeichen XX-X 7, von seiner damaligen Wohnung in der Straße "F" aus der Kreuzung über den G-Weg. Dieser beschreibt in seinem Verlauf eine Rechtskurve, in deren Scheitelpunkt von links der H-Weg einmündet. Diese Kreuzung beschreibt mithin ungefähr ein Y, in das der Kläger am oberen rechten Schenkel einfuhr. Aus der Fahrtrichtung des Klägers gesehen nach der Einfahrt in die Y-Kreuzung war das Verkehrsschild "Tempo 30" verbunden mit dem Zeichen 112 (unebene Fahrbahn) aufgestellt, und zwar vor einer einzelnen künstlichen, der Verkehrsberuhigung dienenden Bodenwelle, die der Kläger mit seinem Motorrad überfuhr. Im weiteren Verlauf des G-Weges erfolgte weder eine ausdrückliche Aufhebung des Tempo 30-Gebots noch eine anderweitige Regelung zur zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Ca. 80 m hinter der Bodenwelle und 20 m vor der Unfallkreuzung mündet von links die I-Straße auf den G-Weg, der ab dann "C-Straße" heißt. Der Kläger beabsichtigte, die folgende Kreuzung B-Straße/C-Straße/D-Weg/E-Straße geradeaus zu überqueren und auf der ansteigenden E-Straße weiter zu fahren. Der Beklagte zu 3 befuhr mit dem bei der Beklagten zu 1 versicherten Pkw VW Touareg mit dem amtlichen Kennzeichen XX-XX ###4 der Beklagten zu 2 die B-Straße. An der streitgegenständlichen Kreuzung steht für den Verkehr auf der B-Straße...