Leitsatz (amtlich)
Zu den Voraussetzungen der Räum- und Streupflicht außerhalb geschlossener Ortschaften.
Normenkette
BGB § 839; GG Art. 34; StrWG NRW §§ 9, 9a; StrWG NRW § 43
Verfahrensgang
LG Essen (Urteil vom 06.07.2015; Aktenzeichen 4 O 236/12) |
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das am 06.07.2015 verkündete Urteil des Einzelrichters der 4. Zivilkammer des LG Essen teilweise abgeändert.
Die Klage wird insgesamt abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
(ohne Tatbestand gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO)
I. Die zulässige Berufung des Beklagten hat in der Sache Erfolg und führt zur Abänderung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage insgesamt.
Der von der Klägerin geltend gemachte Schadensersatzanspruch gemäß § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG besteht nicht. Es liegt keine für den streitgegenständlichen Unfall kausale Amtspflichtverletzung im Sinne des § 839 Abs. 1 S. 1 BGB in Form einer Verletzung einer Streupflicht durch den Beklagten vor. Im Einzelnen gilt insoweit:
1. Nach § 43 Abs. 1 Nr. 2 StrWG NRW obliegt den Kreisen die Straßenbaulast für die in ihrem Gebiet verlaufenden Kreisstraßen. Dazu gehört die allgemeine Verkehrssicherungspflicht, in deren Rahmen auch der Winterdienst fällt. Nach § 9 Abs. 3 StrWG NRW sollen die Träger der Straßenbaulast nach besten Kräften die Straße bei Schnee und Eisglätte räumen und streuen. Es handelt sich gemäß § 9a Abs. 1 S. 2 StrWG NRW ausdrücklich um eine hoheitliche Aufgabe.
Diese Räum- und Streupflicht wird allerdings - wie jede Verkehrssicherungspflicht - durch das Kriterium der wirtschaftlichen Zumutbarkeit begrenzt.
Daher haben die für die Verkehrssicherheit der Straßen Verantwortlichen nach gefestigter und einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung sowie nach allgemeiner Auffassung in der Literatur den Glatteisgefahren auf öffentlichen Straßen außerhalb geschlossener Ortslagen nur ausnahmsweise vorzubeugen, und zwar grundsätzlich nur an besonders gefährlichen Stellen.
Eine solche besonders gefährliche Stelle liegt dann vor, wenn der Straßenbenutzer bei der für Fahrten auf winterlichen Straßen zu fordernden schärferen Beobachtung des Straßenzustandes und damit zu fordernder erhöhter Sorgfalt den die Gefahr bedingenden Zustand der Straße nicht oder nicht rechtzeitig erkennen und deshalb die Gefahr nicht meistern kann (BGH, Beschluss v. 20.10.1994 - III ZR 60/94 -, Rn. 5, juris; BGH, Beschluss v. 26.03.1987 - III ZR 14/86, BeckRS 1987, 30390074, beck-online; BGH, Urteil v. 13.12.1965 - III ZR 99/64 -, Rn. 10, juris; OLG Braunschweig, NZV 2006, 586; OLGR München 2005, 754; OLG Brandenburg, Urteil v. 22.06.2004 - 2 U 36/03 -, Rn. 14, juris; OLG Hamm NVwZ-RR 2001, 798; OLG Karlsruhe, Urteil v. 11.07.1997 - 10 U 71/97, BeckRS 1997, 15938, beck-online; s. auch: OVG Münster NVwZ-RR 2014, 816; König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., StVO § 45 Rn. 57, 62; Hager in: Staudinger, BGB Neubearbeitung 2009 BGB § 823 E, Rn. E 136).
Demgegenüber liegt eine besonders gefährliche Stelle dann nicht vor, wenn ein umsichtiger Kraftfahrer unter Berücksichtigung der bei winterlichen Temperaturen gebotenen Vorsicht mit dem Auftreten von Glätte an der konkreten Stelle rechnen musste und die Gefahr der Stelle auch erkennbar war.
Dabei ist davon auszugehen, dass die Verkehrsteilnehmer wissen, dass sich aufgrund wechselnder Witterungseinwirkungen - wie insbesondere unterschiedlicher Sonnenbestrahlung, Bodentemperatur oder Bodenfeuchtigkeit - an einzelnen Straßenabschnitten Glätte bilden oder halten kann, auch wenn andere Straßenabschnitte noch oder schon wieder frei von Glätte sind. In einem Gebiet mit - wie vorliegend - abschnittsweise neben der Straße befindlichen Waldbeständen und damit unterschiedlicher Sonneneinstrahlung auf die Straßenoberfläche muss ein umsichtiger Kraftfahrer daher auch mit überraschendem Auftreten von Glätte rechnen (vgl. zum Vorstehenden: BGH, Beschluss v. 20.12.1984 - III ZR 19/84 -, Rn. 3, juris; OLG Brandenburg, Urteil v. 22.06.2004 - 2 U 36/03 -, Rn. 14, juris; OLG Hamm, Urteil v. 02.03.2001 - 9 U 133/00 -, Rn. 8, juris; OLG Düsseldorf, Urteil v. 22.10.1992 - 18 U 99/92 -, juris; Hager, a.a.O.).
Hinsichtlich der Frage des Erfordernisses der Verkehrssicherung durch Streuen sind in die Abwägung auch die Art und Wichtigkeit des Verkehrsweges und die Stärke des dort zu erwartenden Verkehrs einzubeziehen, die Einfluss auf die Erwartungshaltung der Verkehrsteilnehmer hinsichtlich der Verkehrssicherung durch Streuen haben ("Verkehrsbedeutung", vgl. BGH, VersR 1991, 665; OLG Brandenburg, MDR 2010, 809; OLG Nürnberg, Urteil v. 10.10.1990 - 4 U 1834/90 -, Rn. 13, juris; König, ibid., StVO, § 45 Rn. 62).
Zur Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht gehört es auch, dass der Verkehrssicherungspflichtige eine Organisation schaffen und überwachen muss, die gewährleistet, dass er über Glatteisbildung auf den der Streupflicht unterliegenden Verkehrsflächen informiert wird (OLG Fra...