Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Anspruchsverlust bei Irrtum über die Reichweite einer Abfindungsvereinbarung
Leitsatz (amtlich)
1. Nur ein vorsätzlicher, nicht schon ein bloß objektiver Verstoß gegen das Aufgabeverbot des § 67 Abs. 1 VVG a.F. führt zum Anspruchsverlust.
2. Dabei können sowohl ein Irrtum über tatsächliche Umstände als auch ein Rechtsirrtum den Vorsatz ausschließen.
3. Vorsatz ist so zu verneinen, wenn der Versicherungsnehmer irrtümlich davon ausgeht, dass eine vereinbarte Abfindungsvereinbarung mit dem Haftpflichtschädiger/Haftpflichtversicherer Ansprüche auf Ersatz zukünftiger Heilbehandlungskosten nicht erfasst.
Normenkette
VVG a.F. § 67 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Münster (Urteil vom 11.06.2015; Aktenzeichen 115 O 235/14) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 11.06.2015 verkündete Urteil der 115. Zivilkammer des LG Münster abgeändert und wie folgt gefasst:
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger auch nach Abschluss des zwischen ihm und [dem Haftpflichtversicherer des Streithelfers] geschlossenen Abfindungsvergleichs vom 30.04.2012 weiterhin die sich aus der Krankenversicherung - [Nr. —-] - ergebenden Erstattungsansprüche des Klägers für ärztliche Krankheitsbehandlungen, physiotherapeutische Behandlungen und ärztlich verordnete Heilmittel zu erstatten, die auf das Unfallereignis vom 28.05.2008 zurückzuführen sind.
Die Widerklage wird abgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits mit Ausnahme der Kosten des Streithelfers, die dieser selber trägt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Vollstreckungsschuldner darf die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des zu vollstreckbaren Betrages leistet.
Gründe
I. Der Kläger begehrt Leistungen aus einem bei der Beklagten bestehenden Krankenversicherungsvertrag, die Beklagte verlangt widerklagend Rückzahlung erbrachter Leistungen. Der Kläger unterhält bei der Beklagten seit 1990 eine Krankheitskostenvollversicherung, versichert sind medizinisch notwendige Heilbehandlungskosten im Umfang von 50 %.
Am 28.05.2008 kam der Kläger bei einem Unfall mit dem Fahrrad zu Fall, er erlitt dabei eine Oberschenkelhalsfraktur sowie einen Streckensehnenabriss im Bereich des Mittelfingers. Verschuldet worden war der Unfall durch einen anderen Fahrradfahrer, dem Streithelfer, dessen privater Haftpflichtversicherer [...] mit Schreiben vom 01.09.2008 mitteilte, dass sie von einer 100%igen Haftung ihres Versicherten ausgehe. Bis März 2012 hatte d. [Haftpflichtversicherer] Schmerzensgeldzahlungen in Höhe von insgesamt 24.500,00 EUR an den Kläger geleistet. Weiterhin hatte sie der Beklagten deren bis dahin erbrachte Leistungen für die durch den Unfall verursachten Heilbehandlungskosten des Klägers in Höhe von 8.707,25 EUR erstattet.
Mit Schreiben vom 23.03.2012 (Bl. 29 - 32 d.A.) schlug der damals vom Kläger bevollmächtigte Rechtsanwalt, der Zeuge R., d. [Haftpflichtversicherer] einen Abfindungsvergleich vor.
Mit ihrem an Rechtsanwalt R. gerichteten Schreiben vom 20.04.2012 (Bl. 35 d.A.) erklärte sich d. [Haftpflichtversicherer] "Mit dem von Ihnen unterbreiteten Abfindungsvorschlag" einverstanden, sie sei bereit, zur Abgeltung der Ansprüche den in der anliegenden Erklärung angegebenen Betrag zu zahlen.
Die von d. [Haftpflichtversicherer] beigefügte Abfindungserklärung hatte folgenden Wortlaut (Bl. 36 d.A.):
"Am 28.05.2008 erlitt (...) ich (...) einen Schaden.
Ich (...) erkläre (...), dass bei Auszahlung einer weiteren Entschädigungssumme von 6.600,00 EUR (...) durch Vergleich alle Schadensersatzansprüche aus diesem Unfallereignis/Schadensereignis, unabhängig davon, ob diese bekannt oder unbekannt, voraussehbar oder nicht voraussehbar sind, endgültig und vollständig abgefunden sind.
Dies gilt uneingeschränkt auch für Schadensersatzansprüche aus diesem Unfallereignis/Schadensereignis gegen Versicherte der o.g. Versicherungsgesellschaft oder etwaige weitere Gesamtschuldner.
(...)
Diese Erklärung erstreckt sich auf alle Schadensersatzansprüche des (...) Anspruchstellers (...), soweit sie zum Zeitpunkt der Abgabe dieser Erklärung nicht - für die o.g. Versicherungsgesellschaft ersichtlich - kraft Gesetzes oder Abtretung auf einen Sozialversicherungsträger, einen Fürsorgeverband, eine private Krankenversicherung oder einen Arbeitgeber bezüglich seiner gesetzlichen Leistungen übergegangen sind."
Der damalige Klägervertreter sandte d. [Haftpflichtversicherer] mit Schreiben vom 30.04.2012 die vom Kläger unterzeichnete Abfindungserklärung zurück und teilte mit, dass er nach Eingang der Zahlungen den Vorgang vollständig in seiner Kanzlei abschließen werde.
Der Betrag von 6.600,00 EUR wurde von d. [Haftpflichtversicherer] an den Kläger gezahlt.
Nach Abschluss des Abfindungsvergleichs erstattete die Beklagte dem Kläger noch weitere durch den Fahrradunfall vom 28.05.2008 verursachte Heilbehandlungskost...