Leitsatz (amtlich)
Ein einfacher Diagnosefehler liegt vor, wenn über einen bloßen Diagnoseirrtum hinaus die Diagnose für einen gewissenhaften Arzt bei ex-ante-Sicht medizinisch nicht vertretbar gewesen ist. Ein grober Diagnosefehler liegt dann vor, wenn eindeutig gegen bewährte Diagnoseregeln oder gesicherte Erkenntnisse verstoßen wird und dieser Fehler aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Die richtige Diagnose muss für den Arzt auf der Hand liegen.
Normenkette
BGB §§ 280, 253
Verfahrensgang
LG Bielefeld (Urteil vom 18.11.2014; Aktenzeichen I-4 O 232/12) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 18.11.2014 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des LG Bielefeld abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein weiteres Schmerzensgeld von 5000 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 10.1.2011 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin von außergerichtlichen, nicht anrechenbaren Rechtsanwaltskosten in Höhe von 672,83 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.7.2012 gegenüber der Rechtsanwaltssozietät Dr. L GbR freizustellen.
Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen. Die weiter gehende Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden der Klägerin zu 9/10 und der Beklagten zu 1/10 auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die am ... 1963 geborene Klägerin hat von der Beklagten wegen vermeintlicher ärztlicher Behandlungsfehler in der Hauptsache die Zahlung eines mit mindestens 35.000,00 EUR für angemessen gehaltenen Schmerzensgeldes und die Feststellung weiter gehender Ersatzpflicht für materielle und nicht vorhersehbare immaterielle Schäden begehrt.
Am 12.4.2006 erlitt die Klägerin einen Verkehrsunfall, bei dem sie sich unter anderem beidseitige Oberschenkelfrakturen, insbesondere rechts eine Oberschenkelschaftfraktur zuzog. Die Frakturverletzungen wurden in der Unfallchirurgischen und Orthopädischen Klinik der Beklagten zunächst stabilisiert und gelenkübergreifend durch eine Osteosynthese mit Fixateur externe an beiden Oberschenkeln versorgt. Am 16.4.2006 wurde am rechten Oberschenkel die Implantation eines anterograden Femurnagels nebst Patellarsehnensrekonstruktion mit Steigbügelosteosynthese und Sehnenrekonstruktion durchgeführt.
Am 17.4.2006 erfolgte eine Röntgendiagnostik des rechten Behandlungsbereichs. Am 20.4.2006 wurde am linken Oberschenkel eine offene Reposition und Osteosynthese mit stabiler Winkelplatte sowie Zugschrauben vorgenommen.
Wegen fortbestehender Belastungsschmerzen wurde die Klägerin, die zwischenzeitlich in die Anschlussheilbehandlung entlassen worden war, am 8.6.2006 erneut röntgenologisch befundet. Dabei zeigte sich auf der rechten Seite eine laterale Oberschenkelhalsfraktur mit Dislokation. Diese Fraktur war bereits auf der Röntgenaufnahme vom 17.4.2006 zu erkennen.
In der Folgezeit unterzog sich die Klägerin mehreren Revisionsoperationen, wobei letztlich wegen einer diagnostizierten Pseudoarthrose des rechten Femurkopfes die Implantation einer zementfreien Totalendoprothese (TEP) erfolgte.
Unstreitig ist an die Klägerin vorprozessual ein Schmerzensgeld von 2.000,00 EUR gezahlt worden.
Die Klägerin hat geltend gemacht, dass die Oberschenkelhalsfraktur schon am 17.4.2006 hätte erkannt werden und durch eine unverzügliche Revisionsoperation hätte therapiert müssen. Wäre das geschehen, wären die starken Schmerzen, die weiteren Eingriffe vom 12.7.2006 und 31.7.2006 sowie letztlich auch die Implantation der TEP vermieden worden.
Die Beklagte hat geltend gemacht, dass es sich bei der Oberschenkelhalsfraktur um eine Komplikation der operativen Versorgung vom 16.4.2006 gehandelt habe, die keinen Behandlungsfehler begründe. Vorzuwerfen sei daher allenfalls ein vermindert schwerwiegender Diagnosefehler bei der Fehlinterpretation der Röntgenaufnahme vom 17.4.2006. Zurechenbare Folge sei allein eine Verzögerung der definitiven Behandlung in den Zeitraum vom 17.4. bis zum 8.6.2006. Diese Beeinträchtigung sei durch das vorprozessual gezahlte Schmerzensgeld hinreichend ausgeglichen.
Das LG hat die Klage nach Erstattung eines mündlichen Gutachtens durch den Sachverständigen Prof. Dr. I abgewiesen.
Es sei schon nicht sicher auszuschließen, dass die Fraktur nicht schon bei dem Unfall entstanden sei. Jedenfalls stelle aber das Übersehen der für einen Unfallchirurgen und Orthopäden sicher zu erkennenden Oberschenkelfraktur auf der Röntgenaufnahme vom 17.6.2006 nur einen einfachen Diagnosefehler dar. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass die fragliche Aufnahme nur von vorne gefertigt worden sei und zu Kontrolle der Einbringung des Nagels und d...