Leitsatz (amtlich)
Verzögert ein grober Befunderhebungsfehler die Behandlung eines Synovialsarkoms im Unterschenkel einer Patientin, kann eine nach der Behandlung zurückbleibende dauerhafte Fuß- und Großzehenschwäche dem Behandlungsfehler zuzurechnen sein (Beweislastumkehr bei groben Behandlungsfehlern in Bezug auf einen Sekundärschaden, der eine typische Folge des Primärschadens ist).
Normenkette
BGB §§ 280, 253
Verfahrensgang
LG Münster (Urteil vom 02.10.2013; Aktenzeichen 108 O 40/13) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 2.10.2013 verkündete Urteil der 8. Zivilkammer des LG Münster abgeändert und wie folgt neu gefasst.
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 15.000 EUR Schmerzensgeld nebst außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten i.H.v. 1.060,89 EUR, jeweils nebst Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 19.3.2012, zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche (weitere) materiellen sowie weiter gehende (nicht vorhersehbare) immateriellen Schäden aus der Behandlung durch den Beklagten in der Zeit vom 4.6.2009 bis zum 19.11.2010 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
Die weiter gehende Klage wird abgewiesen.
Die Kosten erster Instanz trägt die Klägerin zu 2/7 und der Beklagte zu 5/7.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Von der Darstellung des Tatbestandes wird gem. §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 ZPO abgesehen.
II. Die zulässige Berufung der Klägerin hat auch in der Sache Erfolg. Der Klägerin steht aufgrund der fehlerhaften ärztlichen Behandlung durch den Beklagten im Zeitraum vom 4.6.2009 bis zum 19.11.2010 ein Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld gem. §§ 280 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB i.H.v. 15.000 EUR zu.
1. Das LG hat bei der Bemessung des Schmerzensgeldes auf 4.000 EUR lediglich das Fortbestehen der Schmerzen als Folge der verzögerten Behandlung für einen Zeitraum von 9 Monaten sowie die potentiell verschlechterte Heilungschance i.S. eines tumorfreien Überlebens und die damit verbundene psychische Belastung berücksichtigt. Hingegen sind nach Auffassung des LG die bei den nachfolgenden Behandlungsmaßnahmen im Universitätsklinikum N1 am 23.3.2011 und im Universitätsklinikum F am 25.5.2011 aufgetretenen Komplikationen und die aus diesen resultierende Fuß- und Großzehenheberschwäche mit den dadurch verursachten Folgebeeinträchtigungen nicht bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen, da diese nicht kausal auf den Behandlungsfehler zurückzuführen seien. Insoweit geht das LG davon aus, dass der Behandlungsverlauf mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit den gleichen Beeinträchtigungen verlaufen wäre, wenn der Beklagte bereits am 30.3.2010 eine kernspintomografische Untersuchung veranlasst hätte und der Tumor dementsprechend früher diagnostiziert und behandelt worden wäre.
2. Aufgrund der vom Senat ergänzend durchgeführten Beweisaufnahme ist jedoch zugunsten der Klägerin davon auszugehen, dass die aufgetretenen Komplikationen und insbesondere die Fuß- und Großzehenheberschwäche kausal auf die vom Beklagten zu vertretende zeitliche Verzögerung der Behandlung des Synovialsarkoms am rechten Unterschenkel zurückzuführen sind. Zwar kann die Klägerin eine solche Ursächlichkeit nicht mit der notwendigen Gewissheit (§ 286 BGB) beweisen. Jedoch greift zu ihren Gunsten eine Beweislastumkehr nach den Grundsätzen über den groben Behandlungsfehler.
a) Nach den Feststellungen des LG stellt es einen groben Behandlungsfehler dar, dass der Beklagte nicht spätestens am 30.3.2010 eine weitere diagnostische Abklärung der Beschwerden der Klägerin durch bildgebende Verfahren veranlasst hat. Der Sachverständige Prof. Dr. N, der dem Senat aus zahlreichen Verfahren als besonders sachkundig bekannt ist, hat auf Nachfrage im Senatstermin klargestellt, ohne dass es hierauf im Ergebnis ankäme, dass bereits das Unterlassen als solches aus medizinischer Sicht nicht mehr verständlich war und einen Verstoß gegen fundamentale ärztliche Regeln dargestellt hat. Zugleich begründet die Unterlassung der weiteren Befunderhebung aber auch einen sog. fiktiven groben Behandlungsfehler: Wie der Sachverständige im Senatstermin noch einmal bestätigt hat und wovon auch das LG ausgegangen ist, hätte eine bereits im März oder April 2010 durchgeführte Bildgebung mit 100 % Sicherheit einen reaktionspflichtigen Befund ergeben. Auf diesen nicht mit weiteren Behandlungsmaßnahmen zur Abklärung der Malignität zu reagieren, wäre gleichfalls, wie das LG zutreffend dargelegt hat und der Sachverständige im Senatstermin noch einmal bekräftigt hat, aus medizinischer Sicht unverständlich und als grober Behandlungsfehler zu bewerten.
b) Wie der Senat bereits in seinem Hinweis vom 20.10.2014 ausgeführt hat, erstreckt sich die hieraus folgende Umkehr der Beweislast auch auf die infolge der O...